Wir müssen Komplexität annehmen

Dass unsere Welt in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer komplexer geworden ist, ist mittlerweile zu einer Binsenweisheit geworden. Im Umgang mit dieser Komplexität tun wir uns jedoch oft schwer, weshalb es ein Ziel geworden ist, Komplexität zu „reduzieren“.

Einige „Wissenschaften“, wie z. B. die Rechtswissenschaften oder die Wirtschaftswissenschaften versuchen diese Reduktion, indem sie ihren Blick auf die Welt auf einen einzelnen kleinen Aspekt verengen: im juristischen zählt nur das Recht und im wirtschaftlichen nur das Geld. Eine derartige Reduktion kann jedoch per definitionem immer nur einen Teil des Bildes erfassen und blendet zwangsläufig viele relevante Aspekte aus – wie in meinen Überlegungen zum „juristischen Zwilling“ skizziert.

Eine solche Reduktion geht jedoch am eigentlichen Ziel vorbei, weil sie uns Verstehen und Kontrolle nur vorgaukelt. Anstatt Komplexität zu reduzieren, müssen wir lernen, sie zu erkennen, sie auszuhalten und sie schließlich zu bewältigen und positiv zu wenden, wie Wolf Lotter in seinem lesenswerten Artikel Hypertext schreibt. Nur so können wir uns die Welt tatsächlich erschließen und innerhalb komplexer Zusammenhänge fundiert handlungsfähig bleiben.

Dieser Blick auf Komplexität darf aber nicht reduzierend sein, sondern muss im Gegenteil integrierend unterschiedliche Perspektiven zusammen bringen. So zitiert Benjamín Labatut in seinem Buch Das blinde Licht den Mathematiker Alexander Grothendieck und seine Biografie Récoltes et Semailles:

Ein Blickpunkt ist immer begrenzt. Er bietet uns ein einziges Bild der Landschaft. Erst wenn weitere Blicke hinzukommen, auf ein uns dieselbe Wirklichkeit, können wir einen vollständigeren Zugang zum Wissen über die Dinge erlangen. Je komplexer die Realität ist, die wir begreifen wollen, desto wichtiger ist es, verschiedene ‚Augen‘ zu haben, damit diese Blicke gebündelt zusammenfinden und wir das Eine durch das Viele sehen können. Genau das ist eine Vision. Sie verbindet die bereits bekannten Blickpunkte und zeigt uns andere, bisher Unbekannte, und so erfassen wir, dass alle Teil eines Ganzen sind.

(s. dazu auch: Nicht-lineare Notizen können Entropie stabil halten)

Schreibe einen Kommentar