Luhmanns Systemtheorie schaut auf Systemerhalt, nicht Handlungsfähigkeit

Nach meinem Beitrag von gestern über den angemessenen Umgang mit Komplexität kam die berechtigte Frage auf, wie das denn mit Luhmanns Systemtheorie zu vereinbaren sei, bei der genau die kritisierte einseitige Brille als zentraler Mechanismus der Bewältigung von Komplexität gilt.

In Luhmanns Theorie stehen soziale Systeme im Mittelpunkt, deren vorderstes Ziel der eigene Selbsterhalt ist. Dazu nimmt jedes System einen ganz spezifischen Blick auf die Welt ein und reduziert sie auf einen einzelnen Aspekt: Recht oder Unrecht, Geld oder Nicht-Geld, wahr oder unwahr. Auf diesem einen „Medium“ kann das System dann operieren, anschlussfähige Kommunikation sicherstellen und damit sich selbst erhalten.

Mit dieser Perspektive beschreibt Luhmann, wie soziale Systeme agieren und wie sie versuchen, mit Komplexität umzugehen. Allerdings nur in dem eben skizzierten Sinne der Selbsterhaltung, nicht im Sinne einer individuellen oder gar kollektiven Handlungsfähigkeit. Luhmann geht hier sogar so weit, Individuen und tatsächliches Handeln für (sozial) irrelevant zu erklären. Diese Verkürzung wiederum mag analytisch fruchtbar sein, begeht aber im Kern genau denselben Fehler der unzulässigen Verkürzung von Komplexität.

Aus der Perspektive, die ich gestern geschildert habe, könnte man nun also sagen, dass Luhmanns Analyse im Kern die Diagnose eines Problems ist, weil diese Funktionsweise der Systeme eben kein angemessenes Handeln ermöglicht. Es wäre also zu fordern, dass sich die gesellschaftlichen Systeme eben nicht mehr nur auf ihr Medium fokussieren, sondern andere Techniken entwickeln, der beobachteten Komplexität gerecht zu werden.

Das ist im Grunde auch der Kern meiner Überlegungen zum juristischen Zwilling: Hier wird gesellschaftliche Komplexität durch das juristische System auf die Frage nach Recht oder Unrecht reduziert. Gleichzeitig verschafft die zentrale Rolle des Rechtssystems in unserer Gesellschaft diesem Blick eine fast schon monopolartige Stellung – vergleichbar nur noch mit der ebenfalls verkürzenden ökonomischen Perspektive. Ein Blick auf die Ausbildung unsere Minister*innen, Abgeordnete und Top-Manager*innen ist da sehr vielsagend…

Schreibe einen Kommentar