Objektivität moderner Wissenschaft ist eine soziale Konstruktion der westlichen Philosophie

Die Idee, dass die Welt sich aus einem losgelöst-objektiven „wissenschaftlichen“ Blick betrachten und letztlich auch kontrollieren lassen könnte ist Ausdruck einer spezifisch westlichen Philosophie, wie Juilan Baggini in seinem Buch How the World Thinks sehr eindrücklich herausarbeitet: So unterscheidet er zwischen wegsuchenden Philosophien und wahrheitssuchenden. Während klassischerweise als „östlich“ bezeichnete Philosophien die Suche nach einem Weg in oder durch die Welt in den Mittelpunkt rücken, betont die „westliche“ Philosophie die Suche nach DER Wahrheit. Wobei sich auch hier Strömungen finden, die da skeptisch sind.

Dabei kommen einige Besonderheiten der westlichen Philosophie zusammen: Sie ist grundsätzlich binär orientiert, was einige grundlegende Unterscheidungen ermöglicht, die wiederum unserer modernen Wissenschaft zugrunde liegen: zwischen „Mensch“ und „Natur“, zwischen „wahr“ und „falsch“ und schließlich zwischen „objektiv“ und „subjektiv“. Auf diese Weise wird ein Blick auf die Welt möglich, der den Menschen als außerhalb ihrer liegend vesteht und es erlaubt, objektiv zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden. Diese Perspektive ist dabei keineswegs säkular, sondern eng mit dem christlichen Gottesbild verbunden, bei dem Gott eben auch außerhalb der Welt steht und über das Geschehen dort – insbesondere die Menschen – allwissend und unfehlbar urteilt. Problematisch gestalten sich dann jedoch Situationen, in denen sich nicht die eine klare Antwort herausbildet, sondern Ambiguitätstoleranz gefragt ist.

Inwieweit sich dieser vorgeblich außenstehende Blick auf die Welt auch naturwissenschaftlich rechtfertigen lässt, ist spätestent mit der Erfindung der Quantenmechanik zweifelhaft geworden: Hier wird der Akt der Messung oder Beobachtung selbst zu einem Eingriff in das System, was Carlos Rovelli in seinem Buch Helgoland schließlich zu der Interpretation bringt, die Physik sei grundsätzlich relational zu verstehen. Dann hätten Dinge keine Eigenschaften „an sich“, sondern immer nur insofern, wie sie sich in der Interaktion mit anderen Dingen äußern.

Dazu kommt eine Weichenstellung für die westliche Philosophe und Wissenschaft, die auf die antike griechische Philosophie zurückgeführt werden kann: der Reduktionmus, also die Erklärung eines Phänomens aus den Eigenschaften seiner Bestandteile. Auf der einen Seite ist dieser Ansatz nachweislich sehr hilfreich gewesen, auf der anderen Seite hat er theoretische Schwächen, die sich aus der konkreten Verbindung von Eigenschaften auf der Mikro- und auf der Makroebene ergeben. Hier haben sich zwar Begriffe wie „Emergenz“ etabliert (vgl. dazu Sean Carrolls hevorragendes The Big Picture), diese beschreiben das Problem jedoch eher, anstatt es zu lösen. Auch komplexe Wechselwirkungen können so aus dem Blick fallen.

Ein weiterer spezifisch-westlicher Blick, der sich in der Wissenschaft zeigt, ist die gesetzte Unabhängigkeit des Wissens von Raum und Zeit. Naturwissenschaften gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Wissen, das in einer konkreten Zeit an einem konkreten Ort gewonnen wurde, automatisch auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten gültig ist. Erste Grenzen sind hier bereits bekannt – z.B. der Big Bang -, für die alltägliche wissenschaftliche Arbeit spielen diese Grenzen jedoch nur eine geringe Rolle. Das führt jedoch dazu, dass andere Wissensbereiche, wie z.B. die Sozialwissenschaften als minderwertig betrachtet werden, weil das gewonnene Wissen hier in hohem Maße abhängig von Zeit und Raum ist (vgl. Natur- und Sozialwissenschaften unterscheiden sich grundlegend).

All diese Überlegungen zur sozialen Bedingtheit der aktuellen wissenschaftlichen Perspektive sollen nicht die Relevanz und Nützlichkeit wissenschaftlichen Wissens infrage stellen. Im Gegenteil, wissenschaftliches Wissen dieser Art ist sogar ganz bewusst an das Kriterium der Nützlichkeit gebunden. Sie weisen aber darauf hin, dass dieses Wissen in erster Linie an dem Kriterium der Nützlichkeit orientiert ist und eben nicht an dem einer objektiven Wahrheit.

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