Die „wissenschaftliche Methode“ ist eine moderne Erfindung

Die besondere Rolle der „wissenschaftlichen Methode“ ist kein Produkt der wissenschaftlichen Revolution, sondern eines Machtkampfes um die Wende zum 20. Jahrhundert.

Nicht nur historische Figuren, über die es kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt, werden im Laufe der Geschichte zu Projektionsflächen für politische Interessen und Interpretationen, die mehr über die Jetztzeit verraten, als über die Vergangenheit. Dies gilt genauso für andere Ideen und Personen, auch in der Wissenschaft. Gerade in unserer modernen Welt, die vorgeblich viel auf die Wissenschaft gibt, werden sie zu Projektionsflächen kultureller Prozesse und zu Symbolen. Geschichten, die über sie erzählt werden, destillieren sich zu Mythen und können sich dabei weit von der Realität entfernen.

Ein Beispiel rekonstruiert Jessica Riskin in ihrem Artikel Just Use Your Thinking Pump! auf der Grundlage des Buches The Scientific Method: An Evolution of Thinking from Darwin to Dewey von Henry M. Cowles. Hier wird deutlich, dass die Idee der einen „wissenschaftlichen Methode“ keineswegs aus der Zeit stammt, die heute allgemein als „wissenschaftliche Revolution“ bezeichnet wird, sondern vielmehr erst um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert entstanden ist:

neither Bacon nor Newton nor anyone else in the seventeenth century would have recognized the phrase; moreover, neither would have agreed with current standard definitions. […] Moreover, as Cowles emphasizes, the phrase “the scientific method” implies an insistence on the distinctness of science at odds with Darwin’s integral, universalist approach.

Das Erstarken der „wissenschaftlichen Methode“ ist Cowles zufolge in erster Linie das Ergebnis eines Machtkampfes zwischen der vorgeblich objektiven Naturwissenschaft und den weicheren „Humanities“. Dieser Konflikt wurde in den USA im Rahmen der „science-not-letters“-Bewegung manifestiert und Anfang des 20. Jahrhunderts konnte sich die Naturwissenschaft fest in der amerikanischen Kultur verankern – als expliziter Gegenentwurf, ja sogar Feind der Humanities:

Here, then, is the answer to when, where, and how “the scientific method” originated: not in any field or practice of science, but in the popular, professional, industrial, and commercial exploitation of its authority. This exploitation crucially involved the insistence that science held an exclusive monopoly on truth, knowledge, and authority, a monopoly for which “the scientific method” was a guarantee.

Hier zeigt sich wieder einmal, dass die moderne Wissenschaft genau so ein soziales Konstrukt ist, das entsprechenden Dynamiken und Prozessen unterliegt, wie andere Gesellschaftsbereiche. Sie ist fraglos extrem nützlich, bietet aber keinen exklusiven oder gar objektiven Zugang zu unserer Welt.

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