Kann das Ganze mehr sein, als die Summe seiner Teile?

Auch wenn ein großer Teil der modernen Wissenschaft auf dem Reduktionsmus beruht, ist vollkommen unklar, wie die Elemente auf der unteren Ebene das System auf der oberen Ebene erzeugen.

Eine zentrale Grundlage der modernen westlichen Wissenschaft ist der Reduktionismus. Er besagt im Kern, dass ich ein System dadurch verstehen kann, dass ich seine Bestandteile beschreibe. Deshalb untersuchen wir Atome, um Materialien zu verstehen, wir untersuchen Zellen, um Organe zu verstehen und wir blicken auf einzelne Personen, um Gesellschaft zu verstehen.

Dieser Perspektive liegt erstmal die Annahme zugrunde, dass das Zusammenwirken dieser Bestandteile das Verhalten des Systems auf der oberen Ebene vollständig bestimmt und erklärt. Das Ganze also nicht mehr oder weniger ist, als die Summe seiner Teile: Wenn ich Atome verstehe, verstehe ich Materialien, wenn ich Zellen verstehe, verstehe ich Organe und wenn ich Individuen verstehe, verstehe ich auch Gesellschaften.

Eine solche Herangehensweise vereinfacht die wissenschaftliche Arbeit enorm, hat aber ein Problem: Ein Organ ist etwas grundlegend anderes als eine Zelle. Es hat andere Eigenschaften und eine eigene Logik. Hier gibt es auch das eingängige Beispiel des Sandhaufens: Nehme ich ein Sandkorn herunter, bleibt der Haufen ein Haufen, auch ein weiteres Korn weniger wird daran vermutlich nichts ändern. Aber wann hört der Haufen denn nun auf, ein Haufen zu sein?

Dieses Phänomen, dass eine Ansammlung von Komponenten dazu führt, dass sie mehr werden (oder zumindest als mehr erscheinen) als die Summe ihrer Teile, nennt man Emergenz. Auch im Alltag ist dieses Phänomen überall um uns herum: Aus Pixeln wird ein Bild. Aus Bäumen wird ein Wald. Aus Autos wird ein Stau. Aus Krümeln wird ein Kuchen.

Dieser Wechsel zwischen den Ebenen ist der blinde Fleck einer reduktionistischen Wissenschaft, und in den letzten Jahrzehnten haben nahezu alle Disziplinen angefangen, ihn explizit zu untersuchen.

Eine grundsätzliche konzeptionelle Unterscheidung besteht dabei zwischen schwacher und starker Emergenz. Schwache Emergenz ist dabei die Annahme, dass sich das System eigentlich auf seine Bestandteile reduzieren lässt, dass uns aber noch die wissenschaftlichen Mittel und Wege fehlen, dies auch zu tun. Starke Emergenz hingegen geht davon aus, dass das System im Kern etwas anderes ist, als die Summe seiner Bestandteile; dass es Eigenschaften oder Dynamiken besitzt, die sich nicht alleine aus ihnen ergeben.

Diese starke Emergenz stellt jedoch eine weitere zentrale Annahme der modernen westlichen Wissenschaft infrage: den Determinismus. Dieser geht davon aus, dass unsere Welt bis in das Kleinste nach festgelegten und klaren Regeln funktioniert, die dann nur noch „abgespult“ werden – wie eine Maschine oder mechanische Uhr. Mit starker Emergenz ist diese Annahme jedoch nicht zu vereinbaren, da es ja irgendetwas in dem System geben muss, was nicht durch seine Bestandteile ausgelöst oder bestimmt wird.

Einen sehr spannenden Ansatz, diesen Widerspruch aufzulösen, formuliert Erik Hoel in seinem Buch The World Behind the World: Consciousness, Free Will, and the Limits of Science. Doch dazu morgen mehr.

Artikel, die auf diesen Text verweisen


Kommentare

Mathias Fischer 27. Januar 2024

@weltenkreuzer.de
Sobald man Pfadeffekte, bzw. einen Zustand, auf den wieder Bezug genommen wird, mitdenkt, kann man bei vollkommenen Determinismus eine starke Emergenz erklären.
Einfaches Beispiel ist ein Computer, dessen Verhalten nicht durch die deterministischen Regeln des Prozessors erklärt werden kann, sondern nur zusammen mit den im Speicher abgelegten Daten.

Dr. Nils Müller 30. Januar 2024 Antworten

Wobei ein Computer halt auch wieder ein sehr „einfaches“ Beispiel für eine emergente Ebene ist. Bei anderen Phänomenen wie einem Herz oder einer Gesellschaft wird es noch komplexer.

Mathias Fischer 30. Januar 2024

@weltenkreuzer.de Wobei ich mir ja gerne einfache Modelle anschaue. Meine Frage daran ist, aus welchen Grund entstehen aus logischen Systemen solche Phänomene? Modelle wie Langtons Ameise oder Conways Game of Life sind da sicherlich auch Klassiker.

Dr. Nils Müller 30. Januar 2024 Antworten

Spannender Gedanke. Wobei solche Modellierungen im Zweifel ja eine kausale „Sackgasse“ sind. Sie sind mit ihrer emergenten Struktur nicht wieder Bestandteil eines übergeordneten Phänomens.

molosovsky 🐿✊💗 29. Januar 2024

@weltenkreuzer.de Re-duktion bedeutet wörtllich ›Rück-Führung‹ auf einfacheren Zustand. Wurde ursprünglich im Lateinischen auch genutzt, um Wiedereroberung & -Unterwerfung zu bezeichnen. Aufs Denken bezogen ist damit die Rück-Führung einer Sache auf ihre ›eigentlichen, wesentlichen‹ Merkmale gemeint.

Grundsätzliches Problem: wie kann mensch sich vor der Reduktion sicher sein, was die wesentlichen Merkmale einer Sache sind?

Dr. Nils Müller 30. Januar 2024 Antworten

Im wissenschaftlichen verstehe ich das schon sehr stark auf die „kleinere“ Ebene bezogen, eben die materiellen Bestandteile. Zu der Frage nach den „wesentlichen“ Merkmalen gab es in der Wissenschaftsgeschichte so einige Diskussionen. Sehr spannend finde ich dazu das Buch „Objektivität“ von Lorraine Daston und Peter Galison, das ich hier mal im Podcast zusammengefasst habe: https://zwischenzweideckeln.de/objektivitaet-lorraine-daston-peter-galison/

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