Emergenz als Fokusebene einer Erklärung
In dem Spannungsverhältnis zwischen starker und schwacher Emergenz macht Erik Hoel in seinem Buch The World Behind the World: Consciousness, Free Will, and the Limits of Science einen sehr spannenden Vorschlag, den ich für mich extrem anschlussfähig finde: kausale Emergenz.
Der Kerngedanke ist dabei, dass ein System auf der Makroebene zwar auf einer gewissen Ebene durch seine Bestandteile bestimmt ist, aber in einer kausalen Erklärung nicht sinnvoll durch diese ersetzt werden kann:
Causal emergence offers a middle road, being neither weak nor strong emergence. It holds that the elements and states of macroscales are reducible to underlying microscales without loss, but that the causation of the macroscale is not.
Ausgangspunkt dieser Idee ist die Beobachtung, dass ein emergentes Phänomen – also ein Organ, ein Material, eine Gesellschaft o.Ä. – durch (quasi) unendlich viele Konstellationen von Elementen auf der Mikroebene entstehen kann. Es gibt nicht die eine, klar definierte und spezifische Konstellation von Zellen, die ein Herz ausmachen. Es gibt nicht die eine einzige Struktur, die aus unterschiedlichen Molekülen ein Material macht und auch eine Gesellschaft kann aus unendlich vielen unterschiedlichen Personen bestehen. Hoel nennt dieses Phänomen „multiple realizability“.
The existence of multiple realizability doesn’t refute the exclusion argument by itself, but it does imply that there is a property that macroscales possess that by definition their microscales don’t: their realizability by many possible microscales.
Aus dieser Perspektive ist das emergente Phänomen sozusagen ein Sammelbegriff für alle Konstellationen auf der Mikroebene, die auf der Makroebene bestimmte Eigenschaften ergeben. So gewinnt die Makroebene auch eine eigene Existenz, grundsätzlich unabhängig von ihrer konkreten Zusammensetzung auf der Mikroebene. Hoel spricht hier auch von einer Art Fehlerkorrektur, die dafür sorgt, dass kleinere oder auch größere Unterschiede auf der Mikroebene nicht zwangsläufig dazu führen, dass die Makroebene auch deutlich anders aussieht. Das führt gerade in weiteren kausalen Erklärungen dazu, dass es kaum sinnvoll ist, von der konkreten „Zellkonstellation A43Gt654b84c“ zu sprechen, es macht viel mehr Sinn, das emergente Phänomen „Herz“ heranzuziehen, wenn es um den menschlichen Blutkreislauf geht.
Kausale Emergenz beschreibt also die Ebene, auf der genau das richtige Maß an Abstraktion, Kompression und Fehlerkorrektur erfolgen, um die vorhandene Komplexität angemessen zu reduzieren und eine sinnvolle Erklärung bieten zu können. Es sind eben nicht 7.487.439 verschiedene Zellkonstellationen, die Blut durch unseren Körper pumpen, sondern das „Herz“. Hoel vergleicht dies sehr treffend mit dem Fokus einer Kamera:
Because of this, finding the right scale to model a system at is very much like you are looking at the causal structure of the system at different scales, like focusing a camera— when you hit the natural scale of description, the system “snaps” into focus and what causes what becomes obvious.
Für mich ist dieses Konzept der Emergenz sehr anschlussfähig, weil es genau diesen Mittelweg findet zwischen einem reduktionistischen Determinismus und einer quasi-magischen starken Emergenz. Es stellt kausale Zusammenhänge in den Mittelpunkt und macht so ebenfalls deutlich, dass jeder Blick auf „die Welt“ immer eine bestimmte Perspektive einnehmen muss.