Optische Täuschungen oder der auf Autopilot gefahrene tägliche Weg zur Arbeit sind nur zwei der zahlreichen Phänomene, die uns zeigen, dass wir selbst komplexe Handlungen oft durchführen, ohne uns ihrer bewusst zu sein. Es muss also unterhalb unseres aktiven Bewusstseins Prozesse geben, die dafür sorgen, dass wir die richtige Abzweigung nehmen, eine Geschwindigkeitsbegrenzung erkennen oder auch nur die Gänge wechseln. Doch welche Rolle spielt dann eigentlich noch unser Bewusstsein?
Das Wechselspiel zwischen unterbewusster Wahrnehmung und dem Bewusstsein steht neben den neuronalen Signaturen des Bewusstseins im Mittelpunkt des Buchs Denken. Wie das Gehirn Bewusstsein schafft des Neurowissenschaftlers Stanislas Dehaene. Dabei entwickelt er eine Theorie, die das Bewusstsein als übergreifenden Speicher versteht, der Informationen für unterschiedliche unbewusste Verarbeitungsprozesse bereitstellt.
Zwischen unbewusster Fleißarbeit und bewusster Entscheidung
Dehaene, der sich ausführlich mit dem Unterschied zwischen bewussten und unbewussten kognitiven Prozessen auseinandersetzt, referiert ausführlich die zahlreichen Studien, die aufzeigen, dass ein großer Teil unserer Wahrnehmung unterbewusst abläuft. Dabei geht es nicht nur um das Ausblenden nebensächlicher Reize oder das Zusammensetzen unserer sinnlichen Wahrnehmung in ein kohärentes Bild, das uns dann präsentiert wird.
Auch die Zuweisung von Bedeutung und einfache logische Schlussfolgerungen können ohne einen bewussten Zugriff erfolgen. So sind Versuchspersonen in der Lage einzuschätzen, ob eine Zahl, die ihnen nur wenige Millisekunden gezeigt wurde und die sie nicht bewusst wahrnehmen konnten, kleiner oder größer ist als Fünf.
Das Resultat all dieser Experimente ist eindeutig: Unser Gehim beherbergt eine Sammlung schlauer unbewusster Vorrichtungen, welche die uns umgebende Welt ständig überwachen und ihr Werte zuordnen, unsere Aufmerksamkeit lenken und unser Denken formen. Dank dieser unterschwelligen Markierungen werden die amorphen Reize, die uns bombardieren, zu einer Landschaft der Gelegenheiten, die sorgfältig nach ihrer Relevanz für unseren aktuellen Ziele geordnet sind. (S. 116)
Es ist also nicht so, dass das Unterbewusstsein nur für Prozesse zuständig ist, die grundlegende Wahrnehmungs- oder Überlebens-Funktionen sicherstellen. Es ist auch zentral an höheren kognitiven Prozessen beteiligt, die uns helfen, die Welt um uns herum zu verstehen und ihr einen Sinn abzugewinnen. Diese unterbewussten Prozesse sind jedoch hoch-spezialisiert und nicht in der Lage strategische Prozesse aus mehreren Interpretationsschritten durchzuführen. Hierzu ist ein bewusster Geist notwendig.
Das mächtige Unbewusste erzeugt komplexe Ahnungen, doch nur ein bewusster Geist kann Schritt für Schritt eine rationale Strategie verfolgen. Indem es als Router fungiert, der Informationen in jede beliebige Serie aufeinanderfolgender Prozesse einspeist, scheint das Bewusstsein uns Zugang zu einem völlig neuen Betriebsmodus zu verschaffen – der Turingmaschine des Gehirns. (S. 159)
So schildert Dehaene, dass der oben vorgestellte Vergleich zwischen zwei Zahlen nicht mehr unbewusst ablaufen kann, sobald zu der angezeigten Zahl die Drei addiert werden soll. Hier sind zwei aufeinanderfolgende Schritte notwendig – die Addition und der Vergleich – die einzeln durchaus unbewusst ablaufen können, zu deren Verknüpfung jedoch ein bewusster Akt notwendig ist.
Das Bewusstsein als universell verfügbarer Arbeitsspeicher
Auf dieser Grundlage und dem Nachweis spezifischer neuronaler Signaturen leitet Dehaene seine Theorie des Bewusstseins als universell verfügbarer Arbeitsspeicher ab. Für ihn übernimmt das Bewusstsein demnach in erster Linie die Funktion, bei einer spezifischen Frage die verfügbaren Informationen strategisch in die zahlreichen unterbewussten Verarbeitungsprozesse einzuspeisen und die Ergebnisse weiter zu vermitteln:
Bewusstsein ist eine entwickelte Vorrichtung, die es uns ermöglicht, eine Information aufzugreifen und dafür zu sorgen, dass sie innerhalb dieses Übertragungssystems wirksam bleibt. (S. 233)
Das Bewusstsein lässt sich dementsprechend mit der Zwischenablage des Computers vergleichen, in der Informationen abgelegt und anderen Programmen zugänglich gemacht werden können. Es fungiert als Koordinationszentrale unseres Gehirns, die die Resultate unterbewusster Prozesse aufgreift. Dabei verfolgt es einen konkreten Plan, der der Lösung eines spezifischen komplexen Problems dient:
Wenn wir sagen, wir seien uns einer bestimmten Information bewusst, meinen wir damit einfach Folgendes: Die Information ist in ein spezifisches Speicherareal eingetreten, das sie für den Rest des Gehirns verfügbar macht. (S. 236)
Diese Theorie eröffnet nicht nur der Neurowissenschaft neue Herangehensweisen, sondern verändert auch unsere Sicht auf Bewusstseinszustände wie das Koma oder das Locked-In-Syndrom, bei dem sich durch den Einsatz bildgebender Verfahren ganz neue Untersuchungsmöglichkeiten ergeben. Sogar die Kommunikation mit Patienten, die keinerlei bewusste Kontrolle über ihren Körper haben scheint auf diese Weise möglich.