Westen hermetisiert im 18. Jhdt. Denken gegenüber Kritik der First Nations

Ideen wie Freiheit und Gleichheit sind keine genuin europäischen Ideen und Werte, sondern gut verborgene Importe, unter anderem aus Nordamerika.

Der Westen sichert das Gefühl der eigenen Überlegenheit nicht nur gegenüber der vorgeblich nicht-beseelten und nicht-intelligenten Natur. Auch in den absoluten Grundlagen unserer modernen Philosophie steckt ein Akt der Arzneimittel m Abgrenzung und Täuschung – diesmal gegenüber den Denkern der amerikanischen First Nations. Ideen wie Freiheit und Gleichheit sind nämlich keine genuin europäischen Ideen und Werte, sondern gut verborgene Importe, unter anderem aus Nordamerika.

Die Dynamik hinter dieser Entwicklung beschreiben David Wengrow und David Graeber in ihrem Buch The Dawn of Everything am Beispiel der Arbeit Jean-Jacques Rousseaus. Ausgangspunkt waren dabei die Interaktionen französischer Missionare mit den amerikanischen First Nations. Dabei waren die Franzosen von deren Lebensweise und Selbstbild überrascht:

What seemed to irritate Biard the most was that the Mi’kmaq would constantly assert that they were, as a result, ‘richer’ than the French. The French had more material possessions, the Mi’kmaq conceded; but they had other, greater assets: ease, comfort and time.

Dabei war diese Einschätzung auch keineswegs umstritten, sondern wurde allgemein als zutreffend angesehen. So gibt es zahlreiche Berichte von Missionaren, die von ihrer Mission nicht zurückkehrten und in Amerika eine neue Heimat fanden:

That indigenous Americans lived in generally free societies, and that Europeans did not, was never really a matter of debate in these exchanges: both sides agreed this was the case. What they differed on was whether or not individual liberty was desirable.

Wenn wir vor diesem Hintergrund auf das hierarchisch strukturierte Europa blicken, das sich zivilisatorisch überlegen fühlt und gerade im Begriff ist, Amerika mit Gewalt und Brutalität zu unterwerfen, wird der philosophische Konflikt deutlich: Wie können „wir“ im Angesicht der First Nations uns für überlegen halten, wenn sie in der direkten Gegenüberstellung der Lebensbedingungen möglicherweise sogar attraktiver erscheinen als wir?

Hier findet dann etwas statt, was man auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten um Lebensqualität und den notwendigen Umbau unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems die ideengeschichtliche „Ursünde“ nennen könnte. Und hier findet sich auch wieder dieser Twist, den Jeremy Lent in seinem Buch The Web of Meaning mit Blick auf die Abgrenzung des Menschen gegenüber der Natur beschreibt:

This is a classic Cartesian ruse: define a quality in terms of human behavior, then claim other animals don’t have it because they’re not human.

Diesmal geht das Manöver so: Die „unzivilisierten Wilden“ können ihr jetziges Leben nur deshalb als besser empfinden, weil sie eben noch nicht die Segnungen der Zivilisation empfunden haben. Weil sie sich eben nicht vorstellen können, in einer anderen Gesellschaft zu leben; sie ziehen das Leben in gleich verteilter Armut dem Leben in ungleich verteiltem Wohlstand vor. Dabei werden die „Wilden“ nicht als „edel“ verspottet – eine Figur, die erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht –, sondern als ignorant-glückliche „dumme“ oder „phantasielose Wilde“ dargestellt:

In fact, he strips his ‘savages’ of any imaginative powers of their own; their happiness is entirely derived from their inability to imagine things otherwise.

Auf diese Weise konnten Ideen und Wertungen von der anderen Seite des Atlantiks abgewertet und ignoriert werden und stellen die Strukturen nicht infrage:

‘Egalitarian’ societies were banished to the bottom of this ladder, where at best they could provide some insight on how our distant ancestors might have lived; but certainly could no longer be imagined as equal parties to a dialogue about how the inhabitants of wealthy and powerful societies should conduct themselves in the present.

Diese Abwertung egalitärer Gesellschaften führt ironischerweise heute dazu, dass wir es nicht schaffen, uns in der nötigen Breite eine andere, egalitärere Gesellschaftsform vorzustellen, als die des neoliberalen Kapitalismus …

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