Historische Wissenschaftler werden kulturell überformt

Unser Blick auf historische Geistesgrößen ist von den Geschichten bestimmt, die über sie erzählt werden, nicht in erster Linie von ihrem tatsächlichen Leben.

Nicht nur wissenschaftliche Ideen, auch die historischen Forschenden selbst verlieren im Rückblick ihre Realität und entwickeln sich zu Projektionsflächen und zur Grundlage von Erzählungen und Mythen, die nicht mehr viel mit ihnen selbst zu tun haben müssen. Das führt zuerst dazu, dass wir historische Forschende, aber auch andere Personen nicht mehr als Menschen sehen, sondern als „Marmorbüsten“ über die Ada Palmer schreibt:

When I’m trying to unpack not only Machiavelli but history in general to my students, it’s very easy for the history to seem like a sequence of marble busts on pedestals who handed us great books. It’s much harder to get at the fact that those people are also people who are like us: people who messed up, people who ran out of money, people who had anxieties, people who failed in things that they undertook. […] That they have an everyday mundanity that we imagine that they don’t.

Das Werk dieser „großen“ Menschen prägt auch unsere heutigen Diskussionen weiterhin, wobei es nicht immer nur um das Streben nach Wissen und neuen Erkenntnissen geht, sondern auch um Aufmerksamkeit, Diskursmacht und nicht zuletzt auch wirtschaftliche Interessen. So schreibt David Quammen über die heutige Rolle von Charles Darwin (€):

Charles Darwin is ever with us. A month seldom passes without new books about the man, his life, his work, and his influence—books by scholars for scholars, by scholars for ordinary readers, and by the many unwashed rest of us nonfiction authors who presume to enter the fray, convinced that there’s one more new way to tell the story of who Darwin was, what he actually said or wrote, why he mattered. This flood of books, accompanied by a constant outpouring of related papers in history journals and other academic outlets, is called the Darwin Industry.

Ein weiteres gutes Beispiel für unser Denken im Hinblick auf große Wissenschaftler*innen findet sich im 20. Jahrhundert mit Stephen Hawking, der auf der einen Seite tatsächlich ein genialer Physiker war, sich später in seinem Leben aber bewusst und gezielt als Celebrity inszenierte, sodass seine wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Hintergrund traten. James Gleick zitiert (€) dazu das Buch Hawking Hawking: The Selling of a Scientific Celebrity von Charles Seife:

The authentic Hawking, the man who had devoted his life to physics, and who had a passion to be understood not just by his peers but also by the public, is barely visible behind the image,” Seife writes. “It’s a vexing, almost paradoxical situation.” There’s a scientific story to tell, and most of Hawking’s later life served to conceal it.

Beim Blick zurück müssen wir immer im Hinterkopf haben, dass alle Berichte, Erzählungen und Interpretationen vor einem bestimmten Hintergrund erfolgen. Sie stehen im Kontext ihrer Zeit und drücken ebenso sehr die Interessen und Überzeugungen ihrer Autor:innen aus, wie die Gedanken und Leben der Menschen, von denen sie handeln.

Dazu bin ich irgendwo auf ein Zitat gestoßen, dass ich leider nicht mehr zuordnen kann (auch wenn ich vermute, dass es von Ada Palmer stammt):

It‘s not the victors who write history. It‘s the people writing histories who write history.

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