Die Entropie von Lesen, Denken und Schreiben

Seit einiger Zeit schwirren mir ein paar Gedanken zum Verhältnis zwischen dem Schreiben, dem Lesen, dem Denken und dem Notizen-Machen im Kopf herum und welche Rolle die physikalische Idee der Entropie spielen könnte, um diese Prozesse und ihre Wechselwirkungen besser zu verstehen. Anlass dazu ist der wirklich großartige Roman Maxwell’s Demon von Steven Hall, um den es genau um den Zusammenhang zwischen der chaotischen Welt und dem chaotischen Leben und der linearen Ordnung von Geschichten geht. Diese Überlegungen scheinen sich auf den Prozess des Lesens, des darüber Nachdenkens, des Notizen machen und schließlich des selbst Schreibens anwenden. Und erlauben es, auch noch, den Charakter unterschiedlicher Notizsysteme zu beschreiben.

Das Konzept der Entropie

Die Idee der Entropie spielt eine wichtige Rolle in einigen Teilbereichen der Physik. Ohne hier ihre Formaldefinition wiedergeben zu können oder die formale Strenge einer physikalischen Größe behaupten zu wollen, scheint sie mir ein hilfreiches Werkzeug, um über die Frage von Ordnung und Unordnung nachzudenken:

Eine niedrige Entropie beschreibt dabei ein strukturiertes System, einen geordneten Zustand, in dem Zusammenhänge und Interaktionen fixiert sind und das über wenig Dynamik und Veränderungsfähigkeit verfügt. Eine hohe Entropie hingegen beschreibt ein unstrukturiertes System, einen ungeordneten Zustand. Hier sind Verbindungen bestenfalls lose und auf jeden Fall sehr dynamisch und flexibel.

Eine erste Annäherung, auch an das Bild, das ich im Folgenden verwenden möchte, bietet hier ein Puzzle: Ein fertiges Puzzle, dass das geplante Bild zeigt, hat eine niedrige Entropie. Die losen Puzzleteile in der Verpackung eine hohe.

Der Witz an der Sache ist nun, dass die Entropie eines Systems erstmal automatisch zunimmt: Struktur zerfällt also im Laufe der Zeit. Hier stößt das Bild des Puzzles an seine Grenzen, bildlich lässt sich aber vielleicht das Vermischen unterschiedlich farbiger Legosteine in einer Kiste hernehmen. Diese Zunahme der Entropie ist nur dann aufzuhalten, wenn dem System von Außen neue Energie zugeführt wird – sich also jemand hinsetzt und die Legosteine wieder sortiert oder die Puzzlesteine zu einem Bild zusammensetzt.

Der Text als Medium geringer Entropie

Dass ich in diesem Text grundsätzlich von Texten spreche, auch wenn wir mittlerweile viele Formen des klar strukturierten Ausdrucks komplexer Ideensysteme haben – Dokumentationen, Video-Essays, Podcasts, … – ist schlicht der einfacheren Schreib- und Lesbarkeit geschuldet.

In der Welt des Ausdrucks von Ideen ist ein linearer Text vermutlich die Struktur mit der geringsten Entropie: Jeder Buchstabe hat eine klar fixierte Position auf dem Papier und auf jedes Wort folgt genau ein weiteres. Innere Querverweise und komplexe Gedanken können zwar abgebildet werden, sie werden jedoch zwangsläufig auf eine gewisse Linearität reduziert.

Ein solches System geringer Entropie entsteht nicht von alleine. Es braucht den konzentrierten Einsatz einer oder mehrere Personen, die komplexen Zusammenhänge auf genau diese Struktur zu fixieren. Oder, wie Steven Hall in seinem Roman Maxwell’s Demon schreibt:

Good stories seem to just work, but they are actually made to work by the artfully concealed application of a shitload of time.

Durch die Fixierung auf Papier kann ein solches niedrig entropisches System auch zeitlich weitestgehend stabil gehalten werden: Buchstaben verändern sich nicht von alleine. Im Laufe der Jahre geht aber z.B. kulturelles Hintergrundwissen verloren und einzelne Aspekte im Text werden nicht länger gesehen. Selbst hier nimmt die Entropie im Laufe der Zeit also zu.

Lesen erhöht die Entropie und stellt Anschlussfähigkeit an andere Systeme her

Was passiert also nun, wenn ein solches System, das mit hohem Energieaufwand strukturiert wurde, auf mich als Leser trifft? Die von den Autor*innen mühsam erzwungene Struktur wird aufgebrochen und die Ideen und Gedanken in unvorhersehbarer Weise mit dem Denken in meinem Kopf konfrontiert. Auf diese Weise werden sie diffuser und anschlussfähiger an andere Themen und Konzepte. Ich verstehe sie auf meine Weise, sehe eigene Parallelen oder ziehe eigene Schlüsse – abhängig davon, was da gerade noch so in meinem Kopf herumschwirrt.

Die Entropie des Systems schießt also plötzlich nach oben. Und wenn ich nicht aufpasse, steigt sie bald so weit an, dass ich mich an das Gelesene nicht mehr konkret erinnern kann, sondern nur noch die Spuren sehe, die es in meinem Denken hinterlassen hat – ohne dass ich noch weiß, wer diese Spuren hinterlassen hat. Das System an sich hat seine Entropie soweit erhöht, dass ich es nicht mehr als eigenständige Struktur wahrnehmen kann.

(Produkt-)Schreiben schafft Struktur und senkt damit die Entropie

Ein möglicher Weg, diesen absehbaren Verlust an Kohärenz zu verhindern, besteht darin, das Gelesene wieder zu verschriftlichen: in einer Zusammenfassung für das eigene Archiv, einzelnen Notizen oder einer eigenständigen Auseinandersetzung mit den Inhalten des Textes – wie zum Beispiel in einer Rezension.

Damit zwinge ich das geöffnete Ideen-System wieder in eine lineare Struktur und kann es – Festplatte, Server oder Buch sei Dank – zeitlich wieder weitestgehend stabil halten. Gleichzeitig schaffe ich aber wieder ein starres Produkt, das kaum zu verändern ist und nur beschränkt anschlussfähig. Ich friere also die Struktur zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder ein, entweder um sie später erneut zu öffnen – wie bei einer linearen Zusammenfassung – oder um sie anderen zu transportieren – wie bei einer Rezension.

Vielleicht fällt den meisten das Schreiben deswegen so schwer: Es braucht einfach viel Energie, losen Informationen eine stabile Struktur aufzuzwingen. Und vielleicht bieten nicht-lineare Notizsysteme wie Zettelkästen deswegen einen gangbaren Zwischenweg zwischen einem reinen Aufnehmen der Struktur der Autor*in im Sinne einer Zusammenfassung und einem eigenen Umgang mit dem Material wie bei einer Rezension: Die Informationen werden in eine flexible Struktur eingefügt, in der sie weitestgehend statisch erhalten bleiben, ohne gleich in eine neue lineare Struktur gezwungen werden zu müssen.

Hierzu findet sich in Maxwell’s Demon aber eine Warnung:

he’d called hyperlinks atom-bombs – punching great toxic holes into text, collapsing their structures, leaving them bleeding focus, logic, fact and sense. […] Without the lead-like protection of a decent cover […] all narratives faced corruption and cancerous mutation, with God-knows-what from other stories and textsleaking in and leaking out.

Also im Grunde genau das, was ich mit diesem Blog eigentlich erreichen will. Aber vielleicht ist das Aufbrechen der streng-linearen Texte aber ja auch ein Feature und kein Bug. Denn so funktioniert Denken.

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