Zur Realität sozialer Konstruktionen

Eine der großen Errungenschaften der Philosophie und vor allem der Soziologie, ist die Erkenntnis, dass viele Dinge in unserem Leben und unserer Welt nicht „einfach so“ sind, sondern in einem historischen – wie Luhmann sagen würde, „kontingenten“ – Prozess entstanden sind. Sich also keineswegs zwangsläufig aus irgendeiner Art sozialem Naturgesetz ergeben haben, sondern sich auch ganz anders hätten entwickeln können. Umgangssprachlich wird dies oft mit der Formulierung zusammengefasst, dies sei „nur eine soziale Konstruktion“ – z. B. im Zusammenhang von Gendernormen, Nationalstaaten oder auch der Existenz und Funktionsweise von Geld.

Das Wort „nur“ ist in dieser Formulierung jedoch vollkommen fehl am Platze. Dass etwas eine soziale Konstruktion ist, heißt keineswegs, dass es sich einfach ignorieren, gestalten oder wegdiskutieren lasse. So schreibt der deutsche Soziologe Georg Simmel beispielsweise in seinem Text „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ über die sozial konstruierte Staatsgrenze:

Gerade an dieser Unpräjudiziertheit durch den natürlichen Raum macht die trotzdem bestehende unbedingte Schärfe der einmal gesetzten physischen Grenze die formende Macht des gesellschaftlichen Zusammenhanges und ihre von innen kommende Notwendigkeit ganz besonders anschaulich.

Das Soziale ist nämlich keineswegs weicher oder flexibler als das vorgeblich natürliche, sondern – einmal fest etabliert – im Gegenteil kaum noch gezielt gestalt- und veränderbar, und wenn, dann nur über lange Zeit.

Bleiben wir beim Beispiel der nationalen Grenze: Die natürliche Welt der Flüsse und Gebirge nehmen wir Menschen als Objekt wahr, das wir gestalten und kontrollieren können: Wir können Brücken und Tunnel bauen und schon wird aus einer harten Grenze ein einfach zu befahrender Weg. Das Soziale hingegen sind wir selbst, das sind untere Interessen, unsere Beziehungen und unsere Identität. Hieran ist strategisch nur schwer zu rütteln, weil es persönlicher Veränderungen Vieler bedarf, soziale Konstruktionen zu überwinden.

Man sieht dies sehr schön daran, dass wir jetzt „künstliche Intelligenz“ nutzen, um sachliche Informationen in eine kommunikativ angemessene Form zu gießen, nur damit auf der anderen Seite dann dieselbe „KI“ aus den höflich gedrechselten Formulierungen den sachlichen Inhalt extrahiert. Wir könnten uns auch alle „einfach“ darauf einigen, direkt in erster Linie auf der sachlichen Ebene zu kommunizieren …

Auch Steven Hall findet in seinem äußerst lesenswerten Roman „Maxwell’s Demon“ eine sehr schöne Formulierung:

„Is the world you live in every day made more from rocks and grass and trees, or from articles, certificates, records, files and letters?“

Wir tun also gut daran, soziale Konstruktionen als solche ernstzunehmen, ihre Wirkmacht anzuerkennen und dann erst zu überlegen, wie wir mit ihnen in Zukunft umgehen wollen.

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