Der Milchkarton auf dem Beifahrersitz: dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen

Natürlich weiß ich noch, welche Farbe das Hemd hatte, das ich vor fast 15 Jahren zu meinem Abiball getragen habe, aber wo habe ich vorhin nochmal mein Handy hingelegt? So geht es sicherlich jedem von uns. Immer und immer wieder. Während wir uns jederzeit an abstruse Dinge erinnern können, vergessen wir im Supermarkt Milch mitzunehmen oder lassen den neuen Schal in der Kneipe liegen.

In seinem neuen Buch The Organized Mind begleitet uns der Psychologe und Neurowissenschaftler Daniel J. Levitin auf einen Rundgang durch die Funktionsweise unseres Gedächtnisses und arbeitet unter anderem heraus, wie wir diese nutzen können, um unserem Gehirn auf die Sprünge zu helfen und den Überblick über unsere unzähligen Habseligkeiten zu behalten.

Das Gehirn kategorisiert Wahrnehmungen, um Energie zu sparen und sich selbst zu entlasten

Daniel J. Levitin: The Organized Mind (978-0525954187)
Daniel J. Levitin: The Organized Mind (978-0525954187)

Levitin stellt heraus, dass einer der zentralen Mechanismen des Gehirns das Einordnen von Wahrnehmungen in gedankliche Schubladen ist. Bei der Vielzahl von Dingen, die wir besitzen, Menschen, denen wir begegnen, und Informationen, die wir im Laufe eines normalen Tages wahrnehmen, wären wir sonst nicht in der Lage, die Welt um uns herum auch nur in Ansätzen zu verstehen. Also werden alle Dackel, Terrier, Golden Retriever und Schäferhunde faul in die Kategorie “Hund” einsortiert. Pizzerien, Sushi-Läden und Wirtshäuser werden zu “Restaurants” und Frank, Evelyn und Andreas zu “Obdachlosen”:

The act of categorizing helps us to organize the physical world-out-there but also organizes the mental world, the world-in-here, in our heads and thus what we can pay attention to and remember. (S. 22)

Dabei ist diese Art der Klassifizierung keineswegs ein bewusstes Handeln. Sie ist nicht einmal ein spezifisch menschlicher Mechanismus:

And the classifications have their roots in animal behavior, so they can be said to be precognitive. What humans did was to make these distinctions linguistic and thus explicitly communicable information. (S. 27)

Ebenso wie viele Tierarten sind wir darauf angewiesen, unsere Wahrnehmung auf eine solche unperfekte Weise zu strukturieren, damit wir unsere Aufmerksamkeit kurzfristig steuern können. Ansonsten müssten wir in jedem Augenblick eine überwältigende Menge an Details aufnehmen, was unseren recht begrenzten bewussten “Arbeitsspeicher” massiv überfordern würde:

Our ability to use and create categories on the spot is a form of cognitive economy. It helps us by consolidating like things, freeing us from having to make decisions that can cause energy depletion, those hundreds of inconsequential decisions such as “Do I want this pen or that pen?” or “Is this exactly the pair of socks that I bought?” or “Have I mixed nearly identical socks in attempting to match them?” (S. 64)

Veränderungen bringen das Gehirn dazu, seine Aufmerksamkeit auf unbekannte Dinge zu richten

Sind Kategorien einmal etabliert, beeinflussen sie massiv, wie wir unsere Aufmerksamkeit lenken und die Welt um uns herum interpretieren. Sie beeinflussen damit auch, inwiefern wir uns an bestimmte Dinge oder Ereignisse erinnern:

[…] for behaviors that are routinized, you can remember the generic content of the behavior (such as the things you ate, since you always eat the same thing), but particulars to that one instance can be very diffcult to call up (such as the sound of a garbage truck going by or a bird that passed by your window) unless they were especially distinctive or emotional. On the other hand, if you did something unique that broke your routine — perhaps you had leftover Pizza for breakfast and spilled tomato sauce on your dress shirt — you are more likely to remember it. (S. 51)

Wir richten unsere Aufmerksamkeit dementsprechend insbesondere auf Dinge, die uns bisher unbekannt waren oder die unseren etablierten Wahrnehmungsschemata widersprechen. Solange wir die Eindrücke um uns herum mit unseren etablierten Denkmustern erfassen können, haben wir freie Kapazitäten um beispielsweise beim Autofahren über den nächsten Urlaub nachzudenken oder uns zu fragen, wie wir uns gerade bei der Besprechung blamiert haben könnten. Gleichzeitig ist unser Gedächtnis also gerade bei alltäglichen und ständig in ähnlicher Form wiederholten Aktivitäten anfällig dafür, die Einzelheiten einer konkreten Situation zu übersehen oder zu vergessen.

Wir sollten möglichst viele Informationen in unsere Umgebung auslagern, um die Fehler unserers Gedächtnisses zu umgehen

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Diese beiden Prozesse – die Kategorisierung von Eindrücken und die Fokussierung auf neue oder überraschende Wahrnehmungen können wir uns Levitin zufolge in unserem Alltag zunutze machen. Dafür setzt er voll auf das Auslagern von Informationen in unsere physische (oder auch digitale) Umwelt:

The most fundamental principle of the organized mind, the one most critical to keeping us from forgetting or losing things, is to shift the burden of organizing from our brains to the external world. If we can remove some or all ofthe process from our brains and put it out into the physical world, we are less likely to make mistakes. This is not because of the limited capacity of our brains—rather, it’s because of the nature of memory storage and retrieval in our brains: Memory processes can easily become distracted or confounded by other, similar items. Active sorting is just one of many ways of using the physical world to organize your mind. (S. 35)

Dementsprechend ist er ein großer Verfechter systematischer Ordnungssysteme, in denen ähnliche oder zusammenhörende Dinge gemeinsam an einem definierten Ort gelagert werden. Auf diese Weise muss unser Gehirn sich nicht daran erinnern, wo denn nochmal die Pappteller, die Zahnstocher für die Käsespießchen und die Papiertischdecken waren, sondern nur wissen, in welcher Schublade das Party-Zubehör lagert. Dabei kann es auch nicht schaden, bestimmte Dinge – beispielsweise Scheren – mehrfach zu besitzen, einfach um sie in alle passenden Kategorien einordnen zu können.

Um uns in einer bestimmten Situation an bestimmte Dinge kurzfristig zu erinnern schlägt Levitin eine besonders kreative Lösung vor:

If you’re afraid you’ll forget to buy milk on the way home, put an empty carton on the seat next to you in the car or in the backpack you carry to work on the subway (a note would do, of course, but the carton is more unusual and so more apt to grab your attention). The other side to leaving physical objects out as reminders is to put them away when you don’t need them. The brain is an exquisite change detector and that’s why you notice the umbrella by the door or the milk carton on the car seat. But a corollary to that is that the brain habituates to things that don’t change. […] If the umbrella is by the door all the time, rain or shine, it no longer functions as a memory trigger, because you don’t notice it. (S. 85)

Wenn wir also eine grundlegende Idee davon haben, wie unser Gedächtnis und die Steuerung unserer Aufmerksamkeit funktioniert, können wir dies nutzen, um beide Prozesse zu entlasten und mentalen Platz zu schaffen für die Dinge, mit denen wir uns gerade tatsächlich beschäftigen. Wie beispielsweise einen Blogbeitrag zu schreiben.

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