Das westliche Denken ist in hohem Maße geprägt von einem klaren Dualismus zwischen der „natürlichen“ Dimension unseres Denkens und einer spezifisch menschlichen „rationalen“ Dimension. Platon unterschied zwischen einem sterblichen Körper und einer unsterblichen Seele, was dann durch das Christentum aufgegriffen und moralisch aufgeladen werden konnte: Die göttliche Seele strebt nach dem Guten, muss dafür aber den bösen Versuchungen des Fleisches widerstehen. Schließlich findet diese Trennung über Descartes auch Eingang in ein nicht-religiöses Weltbild, indem er das denkende und reflektierende Ich sogar in den Kern der menschlichen Existenz rückt. Als Teil der Psyche wird es dann mit Sigmund Freuds Theorie von „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ weiter verfestigt.
Jeremy Lent unterscheidet in seinem Buch The Web of Meaning zwischen zwei unterschiedlichen Spezialisierungen der Intelligenz: einer „belebten“ Intelligenz und einer „konzeptionellen“, bei der wir Menschen es zu besonderer Meisterschaft gebracht haben. Die Parallele zu „Ich“ und „Selbst“ wird dabei schnell deutlich:
The ‘I’ arises from conceptual consciousness with its ability to think abstract thoughts. It’s an emergent property of conscious awareness, continually observing the self, categorizing it, judging it and explaining it to others.
Dabei kommt dem „Ich“ als planender Instanz, die im hohen Maße durch den Präfrontalen Cortex gesteuert ist, in erster Linie die Funktion zu, die Impulse und Bedürfnisse des „Selbst“ im Hinblick auf die Passung zu bewussten Zielen und Wünschen zu überprüfen und im Zweifelsfalle steuernd einzugreifen:
The ‘I’ is constantly evaluating the self, making judgments about it and– crucially– can influence the direction the self will take in the future. So, the ‘I’ is not just telling a story about the past, it’s also actively constructing the story of the future.
Dabei haben wir Westler*innen durch unsere kulturelle Prägung ein bestimmtes Verhältnis zwischen den beiden Aspekten unseres Denkens gelernt: In unserem bewussten Denken identifizieren wir uns voll und ganz mit unserem „Ich“ – also mit der Manifestation unserer konzeptionellen Intelligenz. Diese hat bestimmte Ziele, Erwartungen und Wünsche im kulturellen Kontext aufgenommen und setzt diese nun mit der Macht der Vernunft gegen das „Selbst“ durch. So tragen wir einen ständigen Konflikt in uns herum, aus dem es keinen Ausweg gibt. Wir bringen die Aggressivität, mit der wir der Welt gegenübertreten in unseren Kopf.
Die Wünsche und Bedürfnisse, die unsere „belebte“ Intelligenz ausdrückt, haben in dieser Konstellation keine Möglichkeit, angemessen Gehör zu finden. Wenn sie nicht zu den Wünschen des „Ich“ passen, werden sie entweder mit viel Willenskraft unterdrückt oder – wenn sie sich im internen Ringen durchsetzen können – beleidigt und beschimpft. Kein Wunder also, dass psychische Krankheiten wie Depression oder Burnout immer weiter um sich greifen.
Dabei ist nicht einmal klar, ob das „konzeptionelle“ Bewusstsein denn tatsächlich im Hinblick auf seine Ziele die besseren Entscheidungen trifft. Immer mehr Forschung deutet darauf hin, dass gerade komplexe und unsichere Entscheidungen in einem vielfältigen Geflecht aus widersprüchlichen Wünschen und diffusen Vor- und Nachteilen besser bei unserer unbewussten Intelligenz aufgehoben sind. So schreibt Lent über die Theorie des „unbewussten Denkens“ von Ap Dijksterhuis und Loran Nordgren:
The best thing to do, they explain, when faced with a complex real-life, multidimensional problem, such as which apartment is the best one to rent, is to consciously consider the data, but then defer making a decision for a while. Go for a long walk and think about something completely different. Sleep on it. As you’re doing this, your unconscious mind, which can hold far more complexity, is mulling over the data. At some point, you’ll begin to ‘get a feeling’ that a particular decision is the right one.
Einen weiteren wichtigen Aspekt zum Verhältnis zwischen intuitivem und konzeptionellem Denken findet Lent zudem bei Sapolsky:
Sapolsky’s wise rule is to rely on our intuition when we’re engaging with our ingroup of family and friends, but when interacting with those who appear different from us, to ‘keep intuitions as far away as possible’.
Es sollte deutlich geworden sein, dass es in unserem kulturellen Kontext nicht gut um das Verhältnis zwischen „Ich“ und „Selbst“ steht. Vielleicht sollten wir da ein wenig an unserer Beziehung zu uns selbst arbeiten. Dann können wir mit unserem „Selbst“ vielleicht so umgehen, wie wir es mit guten Freund*innen tun:
When you find your ‘self’ making a mistake, you can choose to treat it with support, understanding and curiosity, rather than perpetuating self-destructive emotions such as shame or guilt.
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