Leonardo da Vinci (1452 – 1519) gilt als das Universalgenie der menschlichen Ideengeschichte. Besonders bekannt ist er für seine Kunst – allen voran natürlich das Abendmahl und die Mona Lisa. Auch als Ingenieur hat da Vinci bis heute einen Namen. Dass er auch als Wissenschaftler seiner Zeit teilweise um Jahrhunderte voraus war, ist jedoch erst in den letzten Jahren wirklich deutlich geworden.
Zu seinen Lebzeiten hat es da Vinci nie geschafft, aus seinen tausenden Seiten von Notizen und Skizzen auch nur eine durchstrukturierte und fokussierte Publikation zu destillieren. Entsprechende Versuche hatte er immer wieder unternommen, konnte diese jedoch nie erfolgreich zu einem Ende führen. Nach seinem Tod verstreuten sich seine Notizbücher in alle Winde, sodass auch kein Nachlassverwalter einen entsprechenden Vorstoß unternehmen konnte. Erst in den letzten Jahrzehnten waren Historiker in der Lage, immer mehr seiner Notizen zusammenzutragen und zu datieren, um so eine Abfolge in die zahlreichen Skizzen und Notizen zu bringen.
In seinem Buch The Science of Leonardo rekonstruiert der österreichische Physiker, Philosoph und für manche Esoteriker Fritjof Capra die zentralen Erkenntnisse des Wissenschaftlers Leonardo da Vinci. Er zeigt auf, dass sich in da Vincis Notizen Ideen und Argumente finden, die allgemein der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert zugeschrieben werden.
Die Methode der empirischen Wissenschaft
Für Capra war Leonardo da Vinci der erste empirische Wissenschaftler in einer Form, die mit der modernen wissenschaftlichen Methode vergleichbar ist. Als begnadeter Zeichner näherte sich da Vinci der Welt mit seiner linken Hand und übersetzte seine Beobachtungen unmittelbar in faszinierende und unglaublich präzise Skizzen.
Five hundred years before the scientific method was recognized and formally described by philosophers and scientists, Leonardo da Vinci single-handedly developed and practiced ist essential characteristics – study of the available literature, systematic observations, experimentation, careful and repeated measurements, the formulation of theoretical models, and frequent attempts at mathematical generalizations. (S. 159)
Da Vinci war kein deduktiver Wissenschaftler, der aus komplexen theoretischen Überlegungen heraus Hypothesen über die Welt anstellt, um diese dann empirisch zu überprüfen. Er ging induktiv vor und nahm die Beobachtung als Ausgangspunkt für die Entwicklung theoretischer Ideen.
Formen und Transformationen statt Zahlen und Korrelationen
Durch diesen optischen Blick auf die Welt folgte da Vinci einem Verständnis von Wissenschaft, das nicht auf Zahlen basierte, sondern auf den in der Natur vorkommenden Formen und Transformationen. Dabei übertrug er fleißig Beobachtungen, die er an einer Stelle gemacht hatte, auf andere Bereiche. Nachdem er beispielsweise erkannt hatte, dass sich Schall als Welle verstehen lässt, versuchte er diesen besser zu verstehen, indem er Steine in das Wasser warf und die entstehenden Wellen beobachtete.
Since Leonardo’s science was a science of qualities, of organic forms and their movements and transformations, the mathematical „necessity“ he saw in nature was not one expressed in quantities and numerical relationships, but one of geometric shapes continually transformingthemselves according to rigorous laws and principles (S. 210)
Mit dieser Perspektive steht er mitten in einer Debatte, die in den letzten Jahren in der Wissenschaft wieder akut geworden ist: der Diskussion um qualitative und quantitative Forschungsmethoden. Für Capra bildet sie auch eine Auflösung der erst 150 Jahre später von René Descartes formulierten Trennung zwischen Geist und Materie, die in seinen Augen der modernen Wissenschaft nach wie vor zugrunde liegt.
Unencumbered by the mind-body split that Descartes would introduce 150 years later, Leonardo did not separate epistemology (the theory of knowledge) from ontology (the theory of what exists in the world), nor indeed philosophy from science and art. (S. 213)
Systemisch-holistisches Denken anstelle eines mechanistischen Weltbildes
Capra sieht damit in da Vinci einen frühen Verbündeten in seinem eigenen Ziel, das mechanistische Weltbild der Wissenschaft zu hinterfragen und durch eine systemisch-holistische Perspektive zu ersetzen. Dieser Wandel ist für ihn gerade im Hinblick auf die großen Probleme der Menschheit unabdingbar. Dabei geht es nicht mehr darum, die Welt in möglichst kleine Komponenten zu zerlegen und diese möglichst detailliert zu analysieren, sondern wieder den Blick zu gewinnen für die großen Zusammenhänge.
This paradigm consists of a number of deeply entrenched ideas and values, among them the view of the universe as a mechanical system composed of elementary building blocks, the view of the human body as a machine, the view of life in society as a competitive struggle for existence, and the belief in unlimited material progress to be achieved through economic and technological growth. All of these assumptions have been fatefully challenged by recent events, and a radical revision of them is now occurring.
As our new century unfolds, it is becoming increasingly apparent that the major problems of our time—whether economic, environmen-al, technological, social, or political—are systemic problems that cannot be solved within the current fragmented and reductionist framework of our academic disciplines and social institutions. We need a radical shift in our perceptions, thinking, and values. And, indeed. we are now at the beginning of such a fundamental change of worldview in science and society. (S. 264)
Diese Interpretation von da Vincis wissenschaftlichem Werk ist natürlich stark durch die Brille Capras geprägt,. Aber sollte seine Interpretation auch nur ansatzweise der tatsächlichen Denkweise da Vincis entsprechen, stellt sich tatsächlich die Frage, wie die Wissenschaftsgeschichte sich entwickelt hätte, wenn da Vincis Ideen schon zu seiner Zeit bekannt geworden wären.
Once again, I cannot help but wonder how differently Western science would have developed if Leonardo had published his treatises during his lifetime, as he had intended. Galileo, Descartes, Bacon, and Newton—the giants of the Scientific Revolution—lived and worked intellectual milieus that were much closer to that of the Renaissance than ours. I believe they would have understood Leonardo’s language and reasoning much better than we do today. (S. 256)