Ein ungläubiges Raunen geht durch das Land, wenn mal wieder eine Umfrage zeigt, dass Deutschland und seine Einwohner in der Welt durchaus beliebt sind. Erst kürzlich kürte eine BBC-Umfrage Deutschland sogar zum beliebtesten Land der Erde – noch vor Kanada. Abgesehen von angemessener Bescheidenheit und der generellen Fragwürdigkeit entsprechender Umfragen, warum fällt es “den Deutschen” so schwer zu glauben, dass andere sie in einem durchaus positiven Licht sehen?
Eine Annäherung an diese Frage ermöglicht das Buch Du bist so deutsch! der deutsch-polnischen Journalistin und Übersetzerin Agnieszka Kowaluk: Sie beschreibt in elf Essays ihren Blick auf die ungebliebten Tugenden der Deutschen aus der Perspektive einer Zuwanderin. Gleich zu Beginn bietet sie dabei eine Antwort auf das Paradox der deutschen Tugenden und der deutschen Beliebtheit im Ausland:
Das Land, das seine deutschen Tugenden nicht mag, ist für viele genau das Land, das man mögen muss, das Deutschland, vor dem man keine Angst zu haben braucht. Die Welt schätzt die deutschen Tugenden und mag gleichzeitig Deutsche, da sie selbst ein kritisches Verhältnis zu ihnen haben. (S. 13-14)
Die deutsche Kultur zeichnet sich durch Offenheit für neue Einflüsse aus
Ein zentraler Punkt, an dem Kowaluk die deutsche Kultur beeindruckt, ist ihre Offenheit und ihre Fähigkeit, Einflüsse aus anderen Ländern und Weltregionen aufzugreifen und in den Alltag wie die eigene Kultur zu integrieren. Angefangen bei den zahlreichen Lehnwörtern der deutschen Sprache bis hin zu den Eigenheiten der deutschen Küche:
Genauso ist das mit der mitteleuropäischen Küche. Sie basiert überall auf denselben Zutaten: Fleisch, Kartoffeln (früher Graupen), Gemüse. Erst die Einflüsse – der Nachbarn, des Überseehandels, der Einwanderer – und die regionalen Varianten […] machen sie interessant. Was heute als Fusion-Küche und als modern gefeiert wird, war schon immer das Prinzip einer guten Küche. (S. 60)
Die geht sogar soweit, dass das, was weithin als “klassische deutsche Küche” bezeichnet wird, gerade bei den Jüngeren im Land eher unbeliebt ist und nahezu in Vergessenheit geraten ist. Es muss erst aufwändig als Rückbesinnung auf das Wesentliche oder als regionale Küche positioniert werden, um wieder attraktiv zu werden. Ein gutes Beispiel sind hier Rucola (Rauke) und Topinambur, die lange Zeit selbstverständlicher Teil der mitteleuropäischen Küche waren, dann verschwanden und jetzt als besondere Produkte mit exotischem Beiklang wiederentdeckt werden.
Regeln und Förmlichkeit gelten als “typisch deutsch”, erzeugen bei Deutschen jedoch eher Unbehagen
Am Beispiel der “Kinderstube” zeigt Kowaluk das ambivalente Verhältnis auf, das die Deutschen gegenüber ihren eigenen Tugenden haben. Während im Ausland die zum Klischee erhobene deutsche Korrektheit, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit durchaus geschätzt werden, wecken sie in der Selbstwahrnehmung ein merkwürdiges Unbehagen:
Die »Kinderstube«, wie man die Erziehung im Umgang miteinander genannt hatte und die man nicht mit dem berüchtigten preußischen Kadavergehorsam gleichsetzen wollte, wurde zusammen mit dem Muff von tausend Jahren fortgefegt. Wenn noch heute die Deutschen nichts so sehr fürchten, wie als spießig, förmlich, steif und ordnungsliebend zu gelten, so scheinen sie sich doch auf gute Manieren wiederzubesinnen, wie man Zeitungsdebatten, besorgten Fernsehrunden und Elterngesprächen entnehmen kann. (S. 124)
Das führt zu einem interessanten Spannungsverhältnis zwischen Förmlichkeit und Korrektheit auf der einen Seite sowie Lockerheit und formlosem Umgang auf der anderen Seite. Für manche mag es überraschend klingen, dass Kowaluk den Deutschen Lockerheit und Formlosigkeit attestiert, sie macht dies jedoch an zahlreichen Beispielen gerade im Bereich der Kindererziehung und der persönlichen Anrede deutlich.
Deutsche misstrauen ihrer eigenen Kultur und versuchen, möglichst wenig deutsch zu sein
Die Fähigkeit, bestimmte Tugenden zu leben, sie jedoch gleichzeitig nicht zu überhöhen und sich auch an andere kulturelle Zusammenhänge anpassen zu können macht die Deutschen möglicherweise im Ausland dermaßen beliebt. Denn der Selbstzweifel, der nach innen oftmals blockierend wirkt und dafür sorgt, dass sich zahlreiche Debatten im Kreis drehen, erscheint nach außen erwachsen und reflektiert. Er verhindert den Eindruck, die Deutschen sähen ihre Lebensweise als überlegen an und macht sie so zu angenehmen Partnern, die zwar über ein hohes Maß an Einfluss und Macht verfügen, von denen jedoch keine Bedrohung ausgeht:
Eine der deutschesten Eigenschaften scheint mir die Lust der Deutschen, so wenig wie möglich deutsch zu sein. Daher vielleicht diese zur Schau gestellte Schlampigkeit im Umgang mit der Zeit bei meinen Freunden, die mich gelegentlich zur Verzweiflung treibt. Assoziierte man früher mit der Tugend der Pünktlichkeit das preußische Heer, so ist vielleicht die nervige Unpünktlichkeit ein unbewusst gesendetes Zeichen: Wir sind gar nicht so tugendhaft, und wir bedrohen auch niemanden mehr. (S. 211)