Westlicher Reduktionismus übersieht das Wesentliche

Neben dem kon­flik­t­be­hafteten Ver­hält­nis zwis­chen Ich und Selb­st ist unser west­lich­es Welt­bild von ein­er zweit­en Grun­dan­nahme geprägt, die bei genauerem Hin­se­hen unzuläs­sig vere­in­facht und uns nur einen beschränk­ten Auss­chnitt der Welt zugänglich macht: dem wis­senschaftlichen Reduk­tion­is­mus. Dieser geht im Kern davon aus, dass ich das Ver­hal­ten eines Sys­tems dadurch ver­ste­hen bzw. erk­lären kann, dass ich seine einzel­nen Bestandteile ver­ste­he bzw. erk­läre. Da diese Bestandteile nach fes­ten Regeln inter­agieren – so die Annahme – ergibt sich daraus zwangsläu­fig auch eine Erk­lärung des gesamten Sys­tems.

Doch bere­its das antike Para­dox vom Schiff des The­seus zeigt, dass es nicht alleine die physis­chen Bestandteile eines Schiffs sind, die dieses zum Schiff des The­seus machen. Alle Planken, Leinen und Segel sind aus­ge­tauscht, aber trotz­dem wür­den wir immer noch von dem­sel­ben Schiff reden.

Einen pro­duk­tiv­en Denkansatz bietet hier die neo-kon­fuzian­is­che Unter­schei­dung zwis­chen den Bestandteilen eines Dings – qi – und den Prinzip­i­en, nach denen diese ange­ord­net bzw. struk­turi­ert sind und miteinan­der inter­agieren – li– So schreibt Jere­my Lent in seinem Buch The Web of Mean­ing:

The cru­cial Neo-Con­fu­cian insight was that, to under­stand the uni­verse, it wasn’t enough to study qi, but also li. To under­stand a par­tic­u­lar plant, for exam­ple, you need­ed to inves­ti­gate not just what it’s made of, but also its rela­tion­ship to every­thing else around it: the soil, oth­er plants, the weath­er, its own his­to­ry and the broad­er con­text of space and time beyond the plant’s imme­di­ate envi­ron­ment.

Dieser Blick auf das li ist es, was der west­lichen Wis­senschaft lange Zeit gefehlt hat und was sich in den let­zten Jahren und Jahrzehn­ten erst ganz langsam entwick­elt hat. So entwick­eln sich in der Biolo­gie beispiel­sweise die Sys­tem­bi­olo­gie oder die Epi­genetik, die den bre­it­eren Kon­text in ihre Erk­lärun­gen ein­beziehen. Ich selb­st habe in der Raum­sozi­olo­gie geforscht, in der immer stärk­er die Rela­tio­nen zwis­chen Akteuren und Objek­ten in den Fokus rück­en. Nur so kön­nen wir unzuläs­sige Vere­in­fachun­gen ver­mei­den und uns der wahren Kom­plex­ität der Welt stellen.

Der klas­sis­che west­lich-wis­senschaftliche Blick ist aber weit­er fokussiert auf die Kom­po­nen­ten, die ähn­lich eines fein abges­timmten Uhrw­erks ihre kleine Auf­gabe erfüllen. Dieses mech­a­nis­tis­che Welt­bild ist eben­falls typ­isch west­lich und keineswegs so alter­na­tiv­los, wie es uns erscheint. Dabei will ich seine Erfolge keineswegs schmälern, aber sie haben uns in der falschen Sicher­heit gewogen, den einen wahren Zugang zu der Welt gefun­den zu haben. Dabei war es in gewiss­er Weise im Grunde nur der ein­fach­ste Zugang:

The reduc­tion­ist approach to the uni­verse is a bit like the fal­la­cy of the drunk man, who is only inter­est­ed in the por­tion of real­i­ty that’s eas­i­ly avail­able for him to access.

Gle­ichzeit­ig legt dieses mech­a­nis­tis­che Welt­bild mech­a­nis­tis­che Lösungsan­sätze für kom­plexe Prob­leme nahe. Dabei suchen wir nach dem einen „Hebel“, den wir nur ziehen müssen, um Prob­leme wie die Kli­makatas­tro­phe oder Hunger auf der Welt zu besiegen: Es fehlt immer nur die richtige Tech­nolo­gie, der eine Geis­tes­blick, der eine geniale Gedanke. Dabei blick­en wir, wie der Philosoph Andreas Weber schreibt, aber nur auf tote Materie und nicht auf lebendi­ge Sys­teme und ver­fehlen damit sowohl den Kern des Prob­lems als auch die einzi­gen vielver­sprechen­den Lösungsan­sätze:

For each new glob­al prob­lem, atten­tion is focused on short-term mech­a­nis­tic solu­tions, rather than prob­ing deep­er sys­temic cau­sa­tion

Quellen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert