Paradigmatische Regeln anzuwenden, braucht Ermessen
Eine der Bedeutungsebenen von „Regel“, die Lorraine Daston in ihrem Buch Rules beschreibt, ist die der Paradigmen und Modelle. Im Mittelpunkt dieser Bedeutungsebene steht ein konkretes oder abstraktes Beispiel, das dem eigenen Handeln Orientierung gibt, ohne es bis ins kleinste Detail zu bestimmen. Daston nimmt hier den Abt des klassischen Klosters als Beispiel:
The abbot, whose name derives from the New Testament Aramaic word abbas or “father,” is invested with vast amounts of discretion, a faculty praised by Benedict as the mother of all virtues (64.17– 19). Discretio (not a classical Latin word) means the ability to draw distinctions (discenere) and to consider each case on its merits.
Dabei übernahm der Abt eine Doppelfunktion: Er fungierte selbst als Beispiel für gottgefälliges Handeln, an dem sich die Mönche orientieren und dem sie nachstreben sollten. Gleichzeitig legte er die kirchlichen Regeln und Paradigmen aus, um in Streitfällen Entscheidungen zu treffen und etwa Fehlverhalten zu sanktionieren. Dabei war er aber eben nicht an den Wortlaut der Regeln gebunden, sondern hatte eine Sammlung von Lehrsätzen, Parabeln und Modellen, an denen er sich ausrichten konnte.
Seine Entscheidungen konnten sich also sowohl aus der Sphäre des Allgemeinen speisen – über die Lehrsätze – als auch aus der Sphäre des Konkreten – über die Parabeln und Vorbilder. So konnte er gleichzeitig der konkreten Situation gerecht werden, als auch den allgemeinen Regeln und eine angemessene Entscheidung treffen. Zentraler Begriff ist dabei das Ermessen, das es ihm erlaubte, selbst zu entscheiden, welche Aspekte er wie gewichtete und wann es angebracht war, von den existierenden Regeln abzuweichen bzw. Regelbruch zu dulden:
Discretion is one form of judgment, though not the whole of judgment, which embraces not only knowing when to temper the rigor of rules but also matters of taste, prudence, and insight into how the world works, including the human psyche.
Systematisch sauber unterscheidet Daston schließlich noch zwischen „emulation“ und „discretion“. Ersteres bezieht sich dabei darauf, dass wir uns am konkreten Handeln anderer Menschen orientieren, während letzteres die variable, aber begründete Anwendung von Regeln thematisiert:
Emulation and discretion are distinct but related abilities. Discretion, the ability to distinguish, tweaks the universal law or rule to the particular case, the classical exercise of judgment. Emulation, in contrast, enlists judgment to move from particular to particular.
Im späteren Verlauf des Buchs geht Daston selbst noch auf die Bedeutung dieser Überlegungen für die heutige Algorithmisierung und Automatisierung ein, mich erinnert es aber auch sehr an Dastons eigene Überlegungen zur kompetenten Analyse wissenschaftlicher Abbildungen in ihrem Buch Objektivität und an Stefan Kühls Konzept der brauchbaren Illegalität. Letztlich liegt dieser Gedanke dann auch meiner Idee des juristischen Zwillings zugrunde.