Die Welt und ihr juristischer Zwilling

Es ist eine etablierte rhetorische und konzep­tionelle Fig­ur, von einem dig­i­tal­en Zwill­ing der Welt zu sprechen. Armin Nasse­hi nutzt diesen Gedanken beispiel­sweise in seinem Buch Muster: Er beschreibt damit, dass wir immer mehr dig­i­tale Dat­en sam­meln und unsere Entschei­dun­gen und unser Han­deln in der Welt dann auf diesen Dat­en basieren: Kred­ite wer­den auf der Grund­lage von Bonitäts­dat­en vergeben, Bewer­bun­gen durch algo­rith­mis­che Sys­teme vor­sortiert oder wirtschaft­spoli­tis­che Entschei­dun­gen in erster Lin­ie auf der Grund­lage math­e­ma­tis­ch­er Mod­elle getrof­fen. Es geht dabei nicht mehr um die Inter­ak­tion mit der echt­en Welt, son­dern eben mit ihrem „dig­i­tal­en Zwill­ing“, der vorge­blich alle rel­e­van­ten Infor­ma­tio­nen abbildet und so eine „bess­er“ oder auch „objek­ti­vere“ Entschei­dung ermöglicht.

Die damit ver­bun­de­nen Gefahren sind mit­tler­weile reich­lich disku­tiert: Solche Entschei­dun­gen kön­nen nur berück­sichti­gen, was sich in stan­dar­d­isierten Dat­en erfassen lässt und tre­f­fen somit in (Einzel?-)Fällen grundle­gend falsche oder ungerechte Entschei­dun­gen. Die Dat­en ignori­eren rel­e­vante Infor­ma­tio­nen, wenn diese zu kom­plex wer­den und sind für die Betrof­fe­nen oft­mals nicht zu durch­schauen, oder gar anzu­passen, wenn sie nicht zutr­e­f­fend sind.

Über einen anderen „Zwill­ing“ wird hinge­gen noch sel­tener gesprochen, obwohl ich ihn für wesentlich grundle­gen­der und auch wesentlich gefährlich­er halte: den „juris­tis­chen Zwill­ing“. Dieser Zwill­ing beste­ht nicht aus Dat­en, son­dern aus rechtlichen Vorschriften, die vorgeben, wie die Welt zu sein hat, wie sich Men­schen zu ver­hal­ten haben und wie sich die Gesellschaft entwick­eln soll. Er ist das grundle­gende Spielfeld der Poli­tik, die an sich nicht viel mehr tun kann, als diesen Zwill­ing zu gestal­ten – eben zu bes­tim­men, wie die Welt sein soll.

Die große Gefahr ist nun aber, dass man diesen Zwill­ing mit der realen Welt ver­wech­selt, also davon aus­ge­ht, dass die Welt tat­säch­lich so ist, wie das Recht es von ihr erwartet:

  • Da wird ein Gesetz erlassen, dass die CO2-Emis­sio­nen in den näch­sten Jahren sinken müssen – und dann wird das auch so ein.
  • Da wird ein Gesetz erlassen, dass Geflüchtete Sprachkurse besuchen müssen – und dann tun sie das auch.
  • Da wird ein Gesetz erlassen, dass Schulen Inklu­sion betreiben müssen – und damit sind alle Kinder bestens betreut.

Dass diese Entschei­dun­gen dann aber auch tat­säch­lich und rein prak­tisch in der echt­en Welt mit all ihren kom­plex­en Abhängigkeit­en, ihren (men­schlichen) Makeln und ihrem Chaos konkret umge­set­zt wer­den müssen, bleibt dann zu oft außen vor:

  • Die Senkung der CO2-Emis­sio­nen braucht mehr öffentlichen Nahverkehr, Wärmepumpen statt fos­siler Heizun­gen und einen deut­lich ver­ringerten Fleis­chkon­sum.
  • Sprachkurse brauchen Organ­i­sa­tio­nen, die sie durch­führen, Räum­lichkeit­en und Geld für oder über­haupt mal qual­i­fizierte Lehrper­so­n­en.
  • Inklu­sion braucht neue Schulkonzepte, kleinere Klassen, mehr son­der- und sozialpäd­a­gogis­ches Per­son­al.

Beson­ders „schön“ sieht man dies ger­ade am Umgang mit Coro­na, das anscheinend per Recht­sakt plöt­zlich abgeschafft wurde und jet­zt keine Rolle mehr spielt – nicht bei den gestiege­nen Kranken­stän­den, nicht bei der Über­sterblichkeit und auch nicht bei langfristi­gen Schä­den. Es wird nicht mehr getestet, es wird nicht mehr ver­merkt, also ist es nicht mehr da. Es bleibt eine „selt­same Erkäl­tung“.

Wir müssen drin­gend einen Weg find­en, Poli­tik und öffentliche Debat­te von dem juris­tis­chen Zwill­ing wegzu­holen und mit der echt­en Welt zu kon­fron­tieren. Vielle­icht wäre es ein erster Schritt, wenn wir nicht mehr in erster Lin­ie Jurist*innen in wirtschaftliche und poli­tis­che Leitungspo­si­tio­nen heben wür­den. Aber dazu wann anders mehr…

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