Zeit oder nicht Zeit, das ist hier die Frage

Für unsere alltägliche Wahrnehmung sind die Kategorien “Raum” und “Zeit” unverzichtbare Voraussetzungen. Automatisch verorten wir Gegenstände und Personen innerhalb des Raums um uns herum und strukturieren unser Erleben entlang eines Zeitpfeils von der Vergangenheit über das Jetzt in die Zukunft. So selbstverständlich uns diese Dimensionen jedoch im Alltag erscheinen, so umstritten sind sie in ihrer wissenschaftlichen Betrachtung.

In seinem Buch Im Universum der Zeit geht der us-amerikanische Physiker Lee Smolin der Bedeutung der Zeit in der historischen Entwicklung der Physik ebenso nach, wie ihrer Konzeption in aktuellen Ansätzen der Quantenphysik und der Kosmologie. Dabei zeigt er auf, wie die Physik in den letzten Jahrhunderten die Zeit nach und nach zu einer Illusion der Wahrnehmung erklärt hat und aus ihren Erklärungsmodellen ausklammern konnte. Nun sieht er jedoch den Punkt gekommen, an dem sich zeigt, dass diese Herangehensweise ein Fehler war und die Zeit wieder Eingang in grundlegende physikalische Erklärungsmodelle finden sollte.

Die Idee zeitloser Wahrheit

Lee Smolin: Im Universum der Zeit (DVA 2014, 978-3-421-04575-1)
Lee Smolin: Im Universum der Zeit (DVA 2014, 978-3-421-04575-1)

Den Ursprung der Entfernung der Zeit aus der Wissenschaft sieht Smolin in der Idee, dass der Wahrheit immer etwas Zeitloses anhaftet. Dieser Gedanke geht im wissenschaftlichen Bereich zurück auf Platon und sein Konzept einer zeitlosen Welt der abstrakten Ideen und Formen. Hier stellen die konkreten Gegenstände nur unperfekte Abbildungen ihrer idealen Vorstellungen dar. Der Tisch, an dem ich diesen Text gerade schreibe, ist demnach nicht an sich ein Tisch, sondern eine Manifestation eines Idealbilds von “Tisch”. Damit etabliert Platon eine abstrakte Welt der Wahrheit, welche nicht nur außerhalb unserer sinnlichen Wahrnehmung liegt, sondern eben auch außerhalb der Zeit. Smolin zufolge lässt sich auch das moderne Ideal der Wissenschaft in dieser Form interpretieren, in der Phänomene unserer Welt lediglich als Manifestationen zeitloser und abstrakter Gesetzmäßigkeiten verstanden werden.

Unserem Denken über die Zeit wohnt etwas Paradoxes inne. Wir nehmen uns selbst als in der Zeit lebend wahr, doch wir stellen uns oft vor, dass die besseren Aspekte unserer Welt und unserer selbst über die Zeit hinausgehen. Was etwas wirklich wahr macht, so meinen wir, ist nicht, dass es jetzt wahr ist, sondern dass es immer wahr gewesen ist und immer wahr sein wird. (S. 14)

Diese Denkweise hat schwerwiegende Konsequenzen dahingehend, wie wir kausale Zusammenhänge interpretieren und daran gehen, unsere Welt zu verstehen. Es reicht aus diesem Blickwinkel nicht, ein konkretes Phänomen in seiner spezifischen Ausprägung zu verstehen, vielmehr müssen wir ein zugrunde liegendes allgemeines Prinzip oder Gesetz identifizieren, das unabhängig von seiner konkreten zeitlichen wie räumlichen Verortung und Ausprägung Bestand hat:

Das Newtonsche Paradigma ersetzt also kausale Prozesse – Prozesse, die sich im Laufe der Zeit vollziehen – durch eine logische Implikation, die zeitlos ist. (S. 94)

Dieses Ideal zeitlosen Wissens führt also dazu, dass wir die Zeit als irrelevant für die eigentliche Erklärung der Welt verstehen müssen. Denn wäre sie relevant, könnten logische Gesetze nicht unabhängig von einer zeitlichen Dimension gedacht werden.

Das isolierte System als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis

Um solche abstrakten Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren, ist die moderne Wissenschaft in hohem Maße auf die Methode des Experiments und der kontrollierten Messung angewiesen. Dazu gilt es, einen möglichst kleinen und überschaubaren Teil aus der Welt zu isolieren und diesen dann so zu betrachten, als würde er vollkommen für sich alleine stehen. Hier muss die Welt also zwangsläufig verkürzt und vereinfacht werden, um tatsächlich nur ein einzelnes Phänomen, einen einzelnen Prozess beobachten zu können:

Um ein System zu studieren, müssen wir definieren, was zu ihm gehört und was von ihm ausgeschlossen ist. Wir behandeln das System so, als ob es vom übrigen Universum isoliert wäre, und diese Isolation ist selbst eine drastische Annäherung. (S. 80)

Diese Herangehensweise funktioniert so lange, wie sich isolierte Systeme tatsächlich wiederholt schaffen lassen, um kausale Zusammenhänge eindeutig zu identifizieren. Sie ist jedoch darauf angewiesen, dass es einen Standpunkt außerhalb des untersuchten Systems gibt, von dem aus man es beobachten kann. Genau diese Voraussetzung kann jedoch nicht länger erfüllt werden, wenn es um kosmologische Fragen, also Fragen nach der Natur unseres Universums und der grundlegenden Beschaffenheit unserer Existenz, geht. Hier gibt es kein unbewegtes “Außen” von dem aus sich das Universum aus neutraler Position beobachten ließe.

Unsere gegenwärtigen Theorien können auf der Ebene des Universums nur dann funktionieren, wenn unser Universum ein Subsystem eines größeren Systems ist. Also erfinden wir eine fiktive Umgebung und füllen sie mit anderen Universen. Das kann nicht zu wirklichem wissenschaftlichen Fortschritt führen, weil wir keinerlei Hypothese über Universen bestätigen oder falsifizieren können, die von unserem eigenen kausal entkoppelt sind. (S. 26)

Diese implizite Annahme eines wie auch immer gearteten “Raums” voller Universen ist jedoch lediglich eine theoretisches Postulat (vgl. meinen Artikel zu Peter Janichs Handwerk und Mundwerk) und keine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Welt. Sie ist vielmehr eine Voraussetzung dafür, dass einige der etablierten kosmologischen Modelle überhaupt konsistent sind. Präzise formuliert muss es also heißen: “Damit unsere Modelle stimmen können, muss es ein solches Multiversum geben” und nicht “Es gibt ein Multiversum, deswegen stimmen unsere Modelle” oder “Weil unsere Modelle stimmen gibt es ein Universum”.

Vom zeitlosen zum zeitgebundenen Univserum

Blick in die Tiefen des Alls (Hubble-Teleskop)

Wie sehen aber nun diese zeitlosen kosmologischen Modelle aus, von denen in den letzten Abschnitten die Rede war? Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass das Universum aus einer fiktiven Außenperspektive unbewegt und unverändert bleibt, also quasi in Raum und Zeit eingefroren ist. Die Wahrnehmung zeitlicher wie räumlicher Veränderungen entsteht demzufolge nur durch die Veränderung der relationalen Positionierung einzelner Elemente innerhalb dieses nach außen hin statischen Raums – ähnlich wie die molekulare Bewegung und Dynamik innerhalb eines Brühwürfels von außen nicht ohne spezielle Instrumente zu erkennen ist. Der britische Physiker Julian Barbour schlägt gar eine Theorie vor, die weder einen zeitlichen Ablauf noch kausale Zusammenhänge benötigt:

Barbours Theorie zufolge ist die Kausalität ebenfalls eine Illusion. Nichts kann Ursache von etwas anderem sein, weil in Wirklichkeit im Universum nichts geschieht: Es gibt einfach nur einen riesigen Haufen von Zeitpunkten, von denen einige von Wesen wie uns selbst erlebt werden. In Wirklichkeit ist jedes Erlebnis jedes Zeitpunkts einfach nur das: unverbunden mit allen übrigen. Es gibt zwar Zeitpunkte, aber keine Ordnung dieser Zeitpunkte, kein Vergehen der Zeit. (S. 135-136)

Auch wenn eine solche Theorie dazu beiträgt, den bestehenden Erklärungsmodellen Konsistenz zu verleihen, scheint sie uns doch zutiefst unbefriedigend. Natürlich kann es sein, dass die Wahrheit uns einfach nicht gefällt, was jedoch nichts an ihrer Geltung ändert. Doch Smolin erinnert an dieser Stelle erneut an die Funktion der Naturwissenschaft:

Um erfolgreich zu sein, muss eine naturwissenschaftliche Theorie uns die Beobachtungen erklären, die wir in der Natur machen. Doch unsere grundlegendste Beobachtung ist die, dass die Natur zeitlich organisiert ist. Wenn die Naturwissenschaft eine Geschichte erzählen muss, die alles, was wir in der Natur beobachten, umfasst und erklärt, sollte das nicht auch unser Erleben der Welt als einen Fluss von Augenblicken einschließen? Ist nicht die elementarste Tatsache der Struktur unserer Erfahrung auch ein Teil der Natur, den unsere fundamentale Theorie der Physik widerspiegeln sollte? (S. 142)

Dabei stellt für ihn insbesondere die Frage nach dem Ursprung unseres Universums und den Gründen für seine Beschaffenheit eine unüberwindbare Barriere dar. Konzepte eines zeitlosen Universums müssen voraussetzen, dass dieses einfach existiert. Sie können nicht die Frage stellen, warum sich genau die beobachteten Gesetzmäßigkeiten herausgebildet haben, die wir beobachten. Es gibt zwar die Idee der Existenz einer unendlichen Anzahl von Universen, die jede mögliche Kombination von Naturgesetzen realisieren, diese kann jedoch auch nicht mit kausalen Gründen für deren Entstehung argumentieren. Diese Idee wird oftmals unter dem Begriff des “unwahrscheinlichen Universums” zusammengefasst und schließt damit an die evolutionstheoretische Idee eines survival of the fittest an. Dabei wird jedoch übersehen, dass gerade die Evolution ein streng zeitgebundener Prozess ist, in dem sich nach und nach Strukturen entwickeln und ihre Reproduktionsfähigkeit in einem bestimmten Umfeld unter Beweis stellen müssen. Smolin fordert daher eine Konzeption der Entstehung des Universums, die diesen Zeitbezug und diese prozedurale Entwicklung berücksichtigt, dabei gleichzeitig aber nicht im Widerspruch zu empirisch gesicherten Erkenntnissen stehen darf:

In der zeitgebundenen Version, die ich vorschlage, ist das Universum ein Prozess zur Ausbrütung neuer Phänomene und Organisationszustände, der sich ständig erneuert, wobei er sich zu Zuständen immer höherer Komplexität und Organisation entwickelt. (S. 265)

An die Stelle des “unwahrscheinlichen Universums” will Smolin entsprechend das “sich entwickelnde Universum” stellen, in dem Naturgesetze keine ätherisch-zeitlosen Prinzipien darstellen, sondern vielmehr im Zeitverlauf entstandene und veränderliche Eigenschaften im Prozess einer andauernden kosmologischen Evolution.

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