Ehemals als absurd verschmähte Ideen kehren leicht verändert zurück

Wis­senschaft liefert keineswegs dauer­hafte und gesicherte Erken­nt­nisse. Sie muss stattdessen als dauer­hafter sozialer Aushand­lung­sprozess darüber ver­standen wer­den, welch­es Wis­sen wir für gut genug abgesichert hal­ten, um es zur Grund­lage weit­er­er Forschung oder gar unseres Han­delns zu machen. Diese Aushand­lung unter­liegt dabei densel­ben Verz­er­run­gen und Fehlschlüssen wie andere soziale Prozesse auch – wenn auch im Ver­gle­ich meist deut­lich trans­par­enter, dafür wiederum mit stärk­erem Gel­tungsanspruch.

Wie jed­er soziale Prozess unter­liegt sie Wellen und Mod­en und The­men oder Argu­mente, die noch vor kurzem im Bere­ich der Wis­senschaft als absurd gal­ten, sind mit­tler­weile plau­si­ble Erk­lärungsan­sätze für kom­plexe Phänomene – wenn auch jew­eils mit einem kleinen Twist. Drei solche Beispiele sind mir bei der Lek­türe von John Sear­les Arbeit­en zum chi­nese room-Gedanken­ex­per­i­ment aufge­fall­en.

Im Zusam­men­hang mit diesem Gedanken­ex­per­i­ment gibt es eine Kri­tik, die argu­men­tiert, dass vielle­icht nicht der Men­sch in dem Zim­mer die chi­ne­sis­che Sprache „ver­ste­ht“, aber dann immer­hin das gesamte Sys­tem aus Per­son, Regel­satz und Infra­struk­tur, welche die Per­son bei der sym­bol­is­chen Ver­ar­beitung der Sprache unter­stützt. Sear­le schreibt in der Reak­tion auf diese Kri­tik:

The idea is that while a per­son doesn’t under­stand Chi­nese, some­how the con­junc­tion of that per­son and bits of paper might under­stand Chi­nese. It is not easy for me to imag­ine how some­one who was not in the grip of an ide­ol­o­gy would find the idea at all plau­si­ble.

Zieht man aktuellere Gedanken zur Emer­genz und sog­ar ein Emer­genz-basiertes Ver­ständ­nis von Intel­li­genz her­an, scheint diese Idee keineswegs auf den ersten Blick absurd – auch wenn der zweite Blick möglicher­weise zeigt, dass sie in diesem konkreten Beispiel trotz­dem nicht zutrifft. Aus dieser Sicht ist es ger­ade eine kon­sti­tu­ierende Eigen­schaft von Intel­li­genz, dass sie nicht in einem Indi­vidu­um verortet ist, son­dern sich aus der Inter­ak­tion auf ein­er Mikro-Ebene „intel­li­gentes“ Denken auf ein­er Makro-Ebene entwick­eln kann.

Unmit­tel­bar im Anschluss spricht sich Sear­le dage­gen aus, Ver­ständ­nis auf reine Infor­ma­tionsver­ar­beitung zu reduzieren. Er schreibt:

For exam­ple, there is a lev­el of descrip­tion at which my stom­ach does infor­ma­tion pro­cess­ing, and it instan­ti­ates any num­ber of com­put­er pro­grams, but I take it we do not want to say that it has any understanding…But if we accept the sys­tems reply, then it is hard to see how we avoid say­ing that stom­ach, heart, liv­er, and so on, are all under­stand­ing sub­sys­tems

Auch hier trifft sein Punkt auf sein konkretes Beispiel dur­chaus zu, lässt sich aber nach heutigem Wis­sen nicht mehr in dieser Form ver­all­ge­mein­ern. Wir wis­sen mit­tler­weile, dass unser Denken eng mit unserem Kör­p­er und seinen Sig­nalen ver­bun­den ist – Stich­wort embod­ied cog­ni­tion: Es gibt beispiel­sweise ein großes und kom­plex­es Ner­venge­flecht, das sich um den Darm windet und wohl deut­lichen Ein­fluss auf unser Fühlen und Denken nehmen kann. Man kön­nte unseren Darm also wom­öglich doch als „ver­ste­hen­des Sub­sys­tem“ beze­ich­nen, wenn auch nicht auf dieselbe Weise wie unser Gehirn.

Schließlich kommt auch noch ein kleines Steck­enpferd von mir auf: die Frage nach der „Real­ität“ sozialer oder men­taler Kon­struk­tio­nen:

And the men­tal-non­men­tal dis­tinc­tion can­not be just in the eye of the behold­er but it must be intrin­sic to the sys­tems; oth­er­wise it would be up to any behold­er to treat peo­ple as non­men­tal and, for exam­ple, hur­ri­canes as men­tal if he likes.

Auch hier hat Sear­le im Rah­men sein­er konkreten Argu­men­ta­tion fra­g­los recht, die Ver­all­ge­meinerung finde ich aber in ihren Imp­lika­tio­nen schwierig. Die physis­che Exis­tenz eines Hur­ri­canes als tat­säch­lich mess­bares Phänomen mit entsprechen­den zer­störerischen Auswirkun­gen in der Land­schaft kann selb­stver­ständlich nicht „her­beikon­stru­iert“ wer­den. Ein solch­er Hur­ri­cane kann aber psy­chol­o­gis­che Auswirkun­gen haben – beispiel­sweise eine Panikat­tacke – oder auch soziale. Getreu dem Thomas-The­o­rem von William Isaac Thomas und Dorothy Swaine Thomas: „If men define sit­u­a­tions as real, they are real in their con­se­quences“

Alle drei Beispiele zeigen deut­lich, wie sehr sich unser Ver­ständ­nis von der Welt in den let­zten 40 Jahren verän­dert hat. Und sie zeigen deut­lich, dass weitre­ichende Gen­er­al­isierun­gen aus den Natur­wis­senschaften spätestens dann an ihre Gren­zen stoßen, wenn sie auf die Welt des men­schlichen Denkens und des sozialen Lebens tre­f­fen.

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