Der Umgang mit Freiheit will gelernt sein. Unsere Zeit ist – ausreichend ökonomische Privilegien vorausgesetzt – durch eine unüberschaubare Zahl an Möglichkeiten geprägt: Wir können jederzeit in jedes Land reisen, haben zehntausende Bücher innerhalb eines Tages in unserem Briefkasten und es gibt so viele Arten wie noch nie zuvor, sein Geld zu verdienen. Insbesondere sind gerade wir im globalen Norden jedoch in unserer Lebensplanung nicht mehr dazu verurteilt, dem Weg unserer Eltern zu folgen oder dem Willen unseres Herrschers. So schreibt David Perell in seinem Essay Hugging the X-Axis:
Freed from the ties of kin and place, people aren’t bound by the traditional virtues of honor and loyalty, which are two of the defining pillars of a commitment-heavy culture.
Doch diese hart erkämpfte Freiheit kommt mit ihren eigenen Schwierigkeiten, mit denen umzulernen wir lernen mussten bzw. immer noch lernen müssen. Wo es viele Optionen gibt, sind viele Entscheidungen zu treffen und aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass Entscheidungen mit vielen Alternativen uns besonders schwer fallen. Und wir besonders oft dazu neigen, sie anzuzweifeln oder gar zu revidieren.
Daher diagnostiziert Perell in meinen Augen nicht zu Unrecht einen Mangel an Verbindlichkeit (commitment), also unserer Bereitschaft und/oder Fähigkeit, langfristige Entscheidungen zu treffen, zu ihnen zu stehen und sie insbesondere auch dann zu verfolgen, wenn sie uns kurzfristig nachteilig erscheinen:
As a result of these convergent trends — the rise of liberalism, technological abundance, and short time horizons — we’ve been overvaluing optionality at the expense of commitment.
Diese Art von Optionsvielfalt hindert uns jedoch daran, ein wirklich freies Leben zu führen, wie Alexa Hazel über die Philosophie Martin Hägglunds schreibt:
To be wealthy — to live a spiritually free life — is, according to Hägglund, to use your allotted time for commitments with which you identify, rather than in the service of maximizing capital accumulation.
Auf diese Weise wird die Optionsvielfalt verbunden mit unserem Zögern, verbindliche Entscheidungen zu treffen, auch zu einer Gefahr für uns selbst. Wenn wir uns eben nicht für etwas entscheiden und dabei bleiben können, fehlt uns eine gesamte Identität (s. dazu auch Resonanz setzt Unverfügbarkeit voraus). Eine verbindliche Entscheidung birgt aber auch Gefahren. Denn wenn wir uns verpflichten, wenn wir unsere Identität (teilweise) mit einer Sache verbinden, können wir scheitern:
Those who have the freedom to commit their allotted time to activities with which they identify are also the ones who can truly fail. To own your life, “[t]o own what you do and what you love,” is according to Hägglund “to put yourself at stake.” (Wieder Alexa Hazel über Martin Hägglund)
Und dann sind wir nicht nur in der Sache gescheitert, sondern haben auch all die anderen Optionen an uns vorbeiziehen lassen, mit denen wir vielleicht hätten Erfolg haben können. Und falsche Entscheidungen sind so ein wenig die Todsünde unserer Zeit.
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