Wissenschaftliches Wissen informiert gesellschaftliche Entscheidungen, muss aber immer in einen ehrlichen Diskurs eingebunden werden

Empirische und normative Fragen

Im ersten Semes­ter meines Sozi­olo­gie-Studi­ums saß ich in der Ver­anstal­tung „Ein­führung in die Meth­o­d­en der empirischen Sozial­forschung“ bei Ger­hard Schulze. In ein­er der ersten Wochen gibt es dabei um den Unter­schied zwis­chen „nor­ma­tiv­en“ und „empirischen“ Fragestel­lun­gen, der sich mich rel­a­tiv schnell erschloss: Nor­ma­tive Fra­gen richt­en sich darauf, wie etwas sein soll(!), empirische darauf, wie etwas ist(!). The­o­retisch leicht zu ver­ste­hen und den­noch sehe ich der fehlen­den Unter­schei­dung das Kern­prob­lem unser­er gesellschaftlichen Debat­ten um den Ein­fluss der Wis­senschaft auf poli­tis­che Entschei­dun­gen, wie wir sie ger­ade im Kon­text der Coro­na-Pan­demie 2020–22 beson­ders deut­lich erlebt haben. Deswe­gen hier ein paar Gedanken dazu:

Vielle­icht hil­ft es, wenn ich die Unter­schei­dung zwis­chen nor­ma­tiv­en und empirischen Fra­gen nochmal deut­lich­er mache: Empirische Fra­gen kön­nen mich zu der Antwort führen, dass ein ham­mer­för­miges Gerät aus Eisen kör­per­lich nicht beein­trächtige Men­schen in die Lage ver­set­zt, einen Druck von x Mil­li­pas­cal auf eine kre­is­för­mige Fläche am Ende eines ange­spitzten Met­all­stabs auszuüben – sprich, einen Nagel in eine Wand zu schla­gen. Das ist Wis­senschaft. Eine dazuge­hörige nor­ma­tive Frage wäre zum Beispiel, wo ich ein Bild aufhän­gen möchte oder ob ich bere­it bin, das Risiko einzuge­hen, den Nagel in eine Strom­leitung zu schla­gen. Dazu kann die Wis­senschaft wenig beitra­gen.

Empirische Fra­gen beziehen sich also auf das Werkzeug, auf den Zusam­men­hang zwis­chen Hand­lung und Kon­se­quenz. Sie kön­nen uns helfen zu beant­worten, was passieren wird, wenn wir eine bes­timmte Maß­nahme ergreifen – also zum Beispiel den Ham­mer auf den Nagel schla­gen. Sie kön­nen uns aber nicht sagen, ob wir an dieser Stelle einen Nagel wollen oder ob wir vielle­icht aus ethis­chen Über­legun­gen bess­er zu einem Schrauben­zieher greifen soll­ten. Sie kön­nen uns aber dann wiederum sagen, dass hier das Risiko ein­er Ver­let­zung um 30 Prozent erhöht ist.

Das Beispiel Corona

Auf die Coro­na-Pan­demie über­tra­gen wäre eine empirische Frage zum Beispiel, um welchen Fak­tor sich die Über­tra­gungsrate des Virus durch eine Maskenpflicht oder Aus­gangssper­ren senken lassen kön­nte. Hier kann die Wis­senschaft ob der Kom­plex­ität der Fra­gen und der kurzen Zeitspanne zwar nur grobe Abschätzun­gen vornehmen, diese sind aber immer noch das beste Wis­sen, was wir in diesem Moment haben. Diese Infor­ma­tion müssen wir als Gesellschaft dann hernehmen, um eine fundierte Entschei­dung zu tre­f­fen. Und dazu wiederum müssen wir uns unser­er Ziele und unser­er Pri­or­itäten klar wer­den:

  • Ist es unser Ziel, koste es, was es wolle, die Über­tra­gungsrate so niedrig wie möglich zu hal­ten? oder
  • Wollen wir die Über­tra­gungsrate möglichst unter 1 senken, dabei aber so weit möglich auch Wirtschaft und öffentlich­es Leben am Laufen hal­ten? oder
  • Wollen wir Todes­fälle und Kranken­hau­sein­weisun­gen ver­hin­dern, kön­nen aber mit „leicht­en“ Ver­läufen zu Hause und möglichen Langfrist­fol­gen leben?

Wenn wir uns dieser Punk­te klar gewor­den sind, kön­nen wir anfan­gen, die unter­schiedlichen Maß­nah­men zu ver­gle­ichen. Und dann, vor dem Hin­ter­grund des nor­ma­tiv vere­in­barten Ziels, gibt es vielle­icht auch klare Aus­sagen der Wis­senschaft zu dem notwendi­gen Han­deln wie zum Beispiel Aus­sagen über die Wirk­samkeit und Neben­wirkun­gen von Masken oder Imp­fun­gen.

Von Zielen und Mitteln in der Klimakatastrophe

Hof­fentlich ist deut­lich gewor­den, dass uns die Wis­senschaft alleine nicht sagen kann, was wir zu tun haben. Eben weil sie keine Aus­sage über unsere Ziele machen kann. Schwierig wird es aber dann, wenn wir Ziele und Wege nicht sauber voneinan­der tren­nen und Mit­tel für Ziele an sich hal­ten oder die Wahl des „richti­gen“ Mit­tels über die Erre­ichung des Ziels stellen. Nehmen wir das Beispiel der Diskus­sion um Strom oder Wasser­stoff als Energieliefer­ant für das Auto der Zukun­ft:

Die Wis­senschaft sagt uns in diesem Zusam­men­hang nicht „Das Auto der Zukun­ft kann nur auf Strom basieren“. Sie sagt uns mein­er Wahrnehmung der Diskus­sion nach: „Wasser­stoff als Antrieb­smit­tel zu nutzen ist ener­getisch inef­fizien­ter als Strom“. Wir bräucht­en für das Wasser­stoff-Auto also mehr Energie als für das Strom-Auto. Vor diesem Hin­ter­grund scheint es also sin­nvoller, auf Stromer zu set­zen. Diese scheinen das bessere Mit­tel zu sein, um das Ziel des CO₂-neu­tralen Indi­vid­u­alverkehrs zu erre­ichen.

Das Argu­ment für Wasser­stof­fau­tos basiert aber auf einem anderen Ziel: dem Erhalt der deutschen Auto­mo­bilin­dus­trie und den damit ver­bun­de­nen Arbeit­splätzen und anderen ökonomis­chen Vorteilen. Wasser­stof­fau­tos ähneln klas­sis­chen Ver­bren­nern wesentlich stärk­er als Elek­troau­tos und daher kön­nten – so das Argu­ment – deutsche Her­steller ihre starke Posi­tion in diesem Bere­ich länger hal­ten. Aber ist das hier genan­nte Ziel wirk­lich ein Ziel an sich? Ist es nicht eher ein Mit­tel zu einem über­ge­ord­neten Ziel?

Ehrliche Ziele

Vor diesem Hin­ter­grund wird das eigentliche Dilem­ma der gesellschaftlichen Diskus­sion klar: Wir müssen ehrlich über die Ziele disku­tieren, die wir erre­ichen wollen und dann, mit Hil­fe der Wis­senschaft her­aus­find­en, was die besten Mit­tel hier­für sind. Hier kön­nen uns deren ver­lässliche Vorher­sagen weit­er­helfen. Diese kön­nen aber immer nur abschätze, was sein wird bzw. kön­nte und nicht, ob wir dieses Ergeb­nis wollen soll­ten. Tat­säch­lich aber wird zwis­chen diesen Ebe­nen nur sel­ten getren­nt und vorge­blich kon­tro­verse Diskus­sio­nen über die Mit­tel ermöglichen es uns, den wirk­lich unbe­que­men und poli­tisch wie moralisch kom­plex­en Diskus­sio­nen über Ziele auszuwe­ichen.

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