Wie sich das Selbst in der Moderne selbst erfinden muss

Die Idee der Freiheit durchdringt das aufgeklärte westliche Denken dermaßen, dass die vollkommene Hingabe an eine Religion oder eine Sache vielfach undenkbar erscheint. Doch mit dem Recht, sein Leben frei gestalten zu können, kommt auch eine unüberschaubare Vielzahl von Möglichkeiten und der Zwang Entscheidungen zu treffen.

Die Ablösung religiöser Glaubenssysteme, die ohne hinterfragt werden zu können unsere Weltsicht bestimmen, gilt als eine der wichtigsten Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Die Idee der Freiheit durchdringt das aufgeklärte westliche Denken dermaßen, dass die vollkommene Hingabe an eine Religion oder eine Sache vielfach undenkbar erscheint. Doch mit dem Recht, sein Leben frei gestalten zu können, kommt auch eine unüberschaubare Vielzahl von Möglichkeiten und der Zwang Entscheidungen zu treffen.

Der Philosoph Wilhelm Schmid argumentiert in seinem Buch Mit sich selbst befreundet sein, dass diese Freiheit uns vor eine neuartige Aufgabe stellt: unser Selbst durch bewusstes Denken und Handeln eigenständig zu erarbeiten.

Selbstverständliche Zusammenhänge lösen sich auf

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Das Gegenmodell der Moderne ist die religiöse oder durch den Stammeszusammenhang geprägte Gesellschaft. Beide zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie fest etablierte Sinnzusammenhänge bereitstellen, in denen sich einzelne Personen verorten müssen. Sie bestimmen über die Prinzipien der Erziehung, die Inhalte der Ausbildung und die formalen und informellen Regeln des Zusammenlebens. Sie stellen unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten bereit und ermöglichen es dem Einzelnen, bestimmte vordefinierte Positionen und Rollen einzunehmen. Das metaphysische wie das praktische Lebenswissen gelten als gesetzt und werden nicht hinterfragt, sondern nahezu unverändert von Generation zu Generation weitergereicht.

Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein (Suhrkamp 2013, 978-3-518-45882-2)
Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein (Suhrkamp 2013, 978-3-518-45882-2)

Diese Selbstverständlichkeit des Wissens und seine Übertragung von einer Generation auf die nächste lösen sich in der Moderne auf. Vielmehr leben Töchter und Söhne in vielfältigen Zusammenhängen, in denen das durch die Eltern vermittelte Wissen nurmehr ein Angebot darstellt und oftmals bereits veraltet ist:

Praktisches Lebenwissen wird in der Moderne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergereicht; die fortschreitende Befreiung hat diese Kette unterbrochen. So findet sich das Individuum allein in seinem begrenzten Lebenshorizont wieder, die Ressourcen eines überlieferten, gemeinsamen Lebenwissens bleiben ihm verschlossen und es beginnt danach zu fragen, wo Lebenshilfe zu bekommen sei. (S. 40)

Praktisches Lebenswissen wie metaphysisches Wissen über die Welt müssen damit immer wieder neu erarbeitet und aus den zahlreichen Möglichkeiten selbst zusammengestellt und integriert werden. Zugleich gilt es, diesen eigenen Bezug zu der Welt auch in der Interaktion mit anderen zu bestätigen und neben der eigenen Überzeugung auch eine Einbettung in ein soziales Umfeld zu etablieren.

In der Konsequenz wird die Herausbildung des Selbst immer stärker zu einem Prozess, der bewusst betrieben und gesteuert werden muss. Damit stellt die moderne Freiheit den Einzelnen vor eine schwere Aufgabe, für die er kaum vorbereitet scheint:

Sie sehen sich vor die Aufgabe gestellt, selbst nach Orientierung zu suchen und ihr Leben selbst zu führen, ohne sich dafür gerüstet zu fühlen. (S. 9)

Routinen etablieren eine Form

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Der Einzelne muss die Freiheit, handeln und denken zu können wie es den eigenen Überzeugungen entspricht, nutzen, um seinem Selbst eine Form zu geben. Dabei schränkt er als Akt der freien Entscheidung seinen eigenen Spielraum ein, indem er bestimmte Ideen für sich akzeptiert und andere verwirft. Er muss aus der amorphen Freiheit also eine neue Form gestalten, welche die Komplexität der Welt für ihn beherrschbar macht.

Ein wichtiges Element einer solchen Form sind Gewohnheiten, also Handlungen, welche dem Selbst in einer Gestalt eingeschrieben sind, dass sie unhinterfragt durchgeführt werden. Sie stellen Schmid zufolge eine Erleichterung dar, welche einen sicheren Hafen bietet und es erlaubt, in anderen Bereichen kontinuierlich Entscheidungen zu treffen:

Zu Recht ist die moderne Zeit stolz darauf, eine Fülle von Wahlmöglichkeiten geschaffen zu haben: aber pausenlos zu wählen, stellt sich als zu anstrengend heraus. Nur dadurch, dass ein großer Teil des Lebens wie von selbst abläuft. lassen sich Kräfte auf den »Rest« konzentrieren. Nur Gewohnheiten sorgen für zeitweilige Erholung, ja mehr noch: Sie ermöglichen ein Wohnen, das als eigentliches Wohnen gelten muss. denn zu Hause ist das Selbst dort, wo das Leben vertraut ist und wo es sich geborgen fühlt: dafür aber sorgen Gewohnheiten. (S. 153)

Damit wird der Alltag zu einem zentralen Element der Selbstbildung, da er die ehemals selbstverständliche Sinnzusammenhänge ersetzt und zum Fixpunkt der Lebensgestaltung wird. Das, was wir für selbstverständlich halten, wird damit zwar zu einer bewussteren Entscheidung, wir können es jedoch nicht einfach plötzlich hinterfragen und umgehen. Gleichzeitig erlaubt uns ein stark strukturierter Alltag den Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen oder einer bewusst gesuchten Unsicherheit:

In der bedrohlichen Unübersichtlichkeit der Welt ist der Alltag die schützende Höhle, überwölbt von der Vertrautheit des Gewohnten, gelegentlich durchbrochen vom Ungewohnten, das gesucht wird oder ungefragt hereinbricht, unweigerlich aber durch Wiederholung und Regelmäßigkeit erneut zum Alltag wird. (S. 159)

Auch wenn die Freiheit der Moderne die Möglichkeiten der Lebensgestaltung vervielfacht, befreit sie uns nicht von dem Bedürfnis nach stabilen Lebens- wie Sinnzusammenhängen. Vielmehr müssen wir uns das Selbst bewusst erarbeiten und den unzähligen Möglichkeiten selbst eine Form geben, in der wir uns eingebunden und verankert fühlen. Der Alltag wird damit zu einer zentralen Voraussetzung für Expeditionen in die unbekannte Wildnis.

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