Von Statistiken und der Erzählung des globalen Fortschritts

Zahlen sind ver­führerisch. Wenn sie ein­mal erhoben und geschrieben sind, erscheinen sie objek­tiv und unver­rück­bar. Damit wer­den sie zu einem Anker in gesellschaftlichen Diskus­sio­nen. Sie helfen uns, die Welt zu ver­ste­hen. Doch selb­st gut gemachte Sta­tis­tiken müssen immer noch inter­pretiert wer­den, damit sie eine Bedeu­tung bekom­men. Wie das schief gehen kann, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Diskus­sion um die Entwick­lung der weltweit­en Armut seit Anfang des 19. Jahrhun­derts.

Eine eindeutige Grafik?

Vor einiger Zeit sorgte in den sozialen Medi­en eine Grafik für Aufmerk­samkeit, in der es um den Rück­gang der glob­alen Armut in den let­zten 200 Jahren ging. Erstellt wurde diese Grafik von Our World in Data, ein­er an die Uni­ver­sität Oxford angegliederte Web­seite. Große Bekan­ntheit hat die Grafik in erster Lin­ie dadurch erlangt, dass sie von Bill Gates auf Twit­ter ver­bre­it­et wurde, der mit sein­er Stiftung die Web­seite Our World in Data maßge­blich finanziert.

Besagte Grafik erweckt den Ein­druck, dass heutzu­tage nur noch ein geringer Anteil der Men­schen in absoluter Armut lebt. Ihr zufolge lebten 1820 noch 90 Prozent der Men­schen von weniger als 1,90 Dol­lar pro Tag (infla­tions- und kaufkraft­bere­inigt!). Heute sind es nur noch knapp 10 Prozent. Das klingt natür­lich sehr ein­drucksvoll und so ver­wun­dert es kaum, dass die Dat­en hin­ter dieser Grafik unter anderem auch in das neue Buch von Steven Pinker Ein­gang gefun­den haben: Aufk­lärung jet­zt: Für Ver­nun­ft, Wis­senschaft, Human­is­mus und Fortschritt. Pinker nutzt die Zahlen dazu, sein Argu­ment zu stützen, dass die wis­senschaftliche Aufk­lärung und der freie Markt Armut erfol­gre­ich bekämpfen und die Welt zu einem besseren Ort machen.

Diskussionen auf mehreren Ebenen

Auch wenn ich das Buch selb­st nicht gele­sen habe, habe ich doch immer mal wieder davon gehört und fand die auss­chnit­tweise vorge­bracht­en Argu­mente und Zahlen auch an sich dur­chaus schlüs­sig. Doch ein Twit­ter-Thread von Oliv­er Weber hat mich auf eine kon­tro­verse Diskus­sion aufmerk­sam gemacht, die sie um diese Dat­en und deren Inter­pre­ta­tion mit­tler­weile entwick­elt hat.

Seit cir­ca zwei Monat­en tobt vor allem im englis­chsprachi­gen Raum eine hochin­ter­es­sante Debat­te über das Fortschrittsnar­ra­tiv, wie es promi­nent allem @sapinker in »Enlight­en­ment Now« ver­tritt. Seinen Anfang nahm alles mit diesem Tweet: (1/X) https://t.co/hI5oUUrxkz

— Oliv­er Weber (@OliverBWeber) March 11, 2019

Größter Kri­tik­er an dieser Grafik und der damit ver­bun­de­nen Argu­men­ta­tion ist der britis­che Wirtschaft­san­thro­pologe Jason Hick­el, der in einem aus­führlichen Blog­post sehr unter­schiedliche Ebe­nen der Kri­tik anspricht.

Seine method­isch-sta­tis­tis­che Kri­tik bezieht sich darauf, dass die Dat­en für die Zeit seit 1981 und die Zeit davor nicht zu ver­gle­ichen seien und nicht das­selbe Phänomen beschrieben: tat­säch­liche Haushalt­sar­mut auf der einen Seite und die aggregierte Wirtschaft­sleis­tung eines Lan­des auf der anderen. Zudem seien die Dat­en für das 19. Jahrhun­dert nur äußerst grobe Schätzun­gen, die zudem für Asien und Afri­ka nur für sehr wenige Län­der vor­lä­gen und von dort ein­fach hochgerech­net wür­den. Schließlich sei nicht berück­sichtigt, dass der Über­gang von der Sub­sis­tenz- zur Mark­twirtschaft zwangsläu­fig zu einem Anstieg des Geldeinkom­mens führt, da Nahrung nun gehan­delt wird und nicht mehr selb­st pro­duziert.

Auf diese Kri­tik gibt es eine aus­führliche und in weit­en Teilen überzeu­gende Antwort von Our World in Data: Das seien nun mal die besten vor­liegen­den Dat­en, die über Jahrzehnte hin­weg in mühevoller Detailar­beit zusam­menge­tra­gen wor­den seien. Let­ztlich sei aber doch klar, dass hier sys­tem­a­tis­che Verz­er­run­gen und Unge­nauigkeit­en nicht zu ver­mei­den sind. Das wisse aber schließlich auch jed­er vorge­bildete Leser. Der Über­gang von der Sub­sis­tenz- zur Mark­twirtschaft sei – ent­ge­gen der Kri­tik Hick­els – jedoch ein­gerech­net. Ich selb­st stecke nicht tief genug in der Methodik drin, sehe zwis­chen Max Ros­er (Our World in Data) und Jason Hick­el aber auch gar nicht den zen­tralen Wider­spruch.

Auch in die Diskus­sion um die Angemessen­heit der absoluten Armutsgren­ze bei 1,90$ pro Tag, die Hick­el zufolge nicht mal dafür aus­re­icht, dass die Men­schen genug Kalo­rien zu sich nehmen kön­nen, um „min­i­male“ Aktiv­ität sicherzustellen, möchte ich hier nicht tiefer ein­steigen.

Aus Daten werden Erzählungen

Was mich beson­ders inter­essiert ist der Moment, wo aus der sta­tis­tis­chen Analyse eine Erzäh­lung oder ein Nar­ra­tiv wird und die Dat­en genutzt wer­den, um ein poli­tis­ches Argu­ment zu unter­mauern. Hasell und Ros­er selb­st schreiben hierzu in ihrem Artikel zur Methodik hin­ter diesen Dat­en:

In con­sid­er­ing long-run glob­al pover­ty trends, peo­ple are at times too quick to present argu­ments on what has brought about progress, and what has under­mined it. Some cham­pi­on the increased role of the state, through social spend­ing or the broad­er man­age­ment of the econ­o­my. Oth­ers empha­size glob­al­ized trade and free mar­kets. These debates on why this has hap­pened are impor­tant, but they are not the same as the his­tor­i­cal work that estab­lish­es what has hap­pened.

Joe Hasell and Max Ros­er:How do we know the his­to­ry of extreme pover­ty?

Hier wech­selt der Kon­flikt dann auch die Pro­tag­o­nis­ten und spielt sich in erster Lin­ie zwis­chen Hick­el und Steven Pinker ab, der die Dat­en nutzen, um eine Geschichte zu erzählen. Die philosophis­che Aufk­lärung, die Indus­tri­al­isierung und der freie Markt sind dafür ver­ant­wortlich, dass heute nur noch ein Bruchteil der Men­schen in Armut leben und wir uns in großen Teilen der Welt ein­er his­torisch bis­lang kaum bekan­nten Frei­heit erfreuen kön­nen.

An dieser Stelle platzt Hick­el dann aus ver­schiede­nen Grün­den – in meinen Augen berechtigter­weise – die Hutschnur, weil die vorgestell­ten Dat­en diese Inter­pre­ta­tion bei genauer­er Betra­ch­tung nicht nur nicht stützen, son­dern möglicher­weise sog­ar wider­legen. So weist Hick­el auf einen zen­tralen Punkt hin:

The vast major­i­ty of gains against pover­ty have hap­pened in one region: East Asia. As it hap­pens, the eco­nom­ic suc­cess of Chi­na and the East Asian tigers – as schol­ars like Ha-Joon Chang and Robert Wade have long point­ed out – is due not to the neolib­er­al mar­kets that you espouse but rather state-led indus­tri­al pol­i­cy, pro­tec­tion­ism and reg­u­la­tion […] Since 2000, the most impres­sive gains against pover­ty (out­side of East Asia) have come from Latin Amer­i­ca, accord­ing to the World Bank, coin­cid­ing with a series of left-wing or social demo­c­ra­t­ic gov­ern­ments that came to pow­er across the con­ti­nent. What­ev­er one might say about these gov­ern­ments (I have my own cri­tiques), this doesn’t sit very well with your neolib­er­al nar­ra­tive

Jason Hick­el: A let­ter to Steven Pinker (and Bill Gates, for that mat­ter) about glob­al pover­ty

Aus Wissenschaft wird Politik

An dieser Stelle sieht man sehr schön, wie Dat­en, die wis­senschaftlich dur­chaus fundiert und wertvoll sind, in der öffentlichen Debat­te miss­braucht wer­den kön­nen, um eine spezielle Agen­da voranzutreiben. Und das, ohne dass man selb­st als dur­chaus vorge­bilde­ter Laie sofort erken­nen kann, wie angemessen eigentlich der hergestellte Zusam­men­hang ist. Ich möchte wed­er Pinker noch Ros­er an dieser Stelle unbe­d­ingt bewusste Manip­u­la­tion unter­stellen. Stattdessen geht es darum, das selb­st gute und ein­deutig ausse­hende Dat­en immer mehrere Inter­pre­ta­tio­nen zulassen, wenn man mal einen genaueren Blick hin­ter die Kulis­sen und in die pos­tulierten Zusam­men­hänge wirft. Und dabei habe ich den inter­es­san­ten Kolo­nial­is­mus-Aspekt, den Hick­el anspricht, noch gar nicht berück­sichtigt.

Aus dieser Diskus­sion gilt es in meinen Augen eine wichtige Lehre zu ziehen, ger­ade für Men­schen die an der Schnittstelle zwis­chen wis­senschaftlich­er und gesellschaftlich­er Diskus­sion sitzen – in diesem Fall also kom­plexe sta­tis­tis­che Dat­en in ein­prägsame Schaubilder über­set­zen. Auch diese Lehre stammt wieder von Hick­el:

„Sure, one might spec­u­late on long-term trends in a text intend­ed for aca­d­e­mics, while fore­ground­ing the uncer­tain­ty and lack of data, as B/M have done. But to cre­ate a shiny graph for lay con­sump­tion on social media while men­tion­ing none of the uncer­tain­ty what­so­ev­er (as in the graph that Gates tweet­ed) is irre­spon­si­ble.“

Jason Hick­el: A response to Max Ros­er: how not to mea­sure glob­al pover­ty

Es kommt also auch bei schein­baren „Fak­ten“ auf den Kon­text an, in dem sie dargestellt und kom­mu­niziert wer­den. Was in der wis­senschaftlichen Diskus­sion vol­lkom­men legit­im und wertvoll ist, kann in der öffentlichen Debat­te zu grob verz­er­rten Wahrnehmungen und unzuläs­si­gen Vere­in­fachun­gen führen. Auch Fak­ten ste­hen also nicht objek­tiv und für sich im leeren Raum, son­dern müssen immer in ihrem sozialen Kon­text ver­standen und in der Kom­mu­nika­tion angemessen darauf angepasst wer­den.

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