Wie war das mit der Aufklärung  und der Freiheit?

etzte Woche habe ich mich ausführlich mit der Diskussion um das neue Buch von Steven Pinker beschäftigt. Jetzt bin ich auf eine weitere sehr interessante Besprechung von John Gray gestoßen, der das ideenhistorische Fundament von Pinkers Argumentation in Zweifel zieht.

Kurz gesagt, argumentiert Pinker, dass der zunehmende Fokus auf die Wissenschaft, die Freiheit des Einzelnen und damit verbunden die liberale Marktwirtschaft in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten unsere Welt zu einem besseren Ort gemacht haben. Dass dabei nicht alle Daten, die er verwendet, tatsächlich dieses Argument unterstützen, habe ich letzte Woche vorgestellt. John Gray geht in seiner Kritik aber noch weiter und stellt infrage, inwieweit die wissenschaftliche Aufklärung selbst überhaupt so ein freiheitliches und individualistisches Bild von der Gesellschaft hatte, wie Steven Pinker es darstellt.

Like the faithful who tell you Christianity is a religion of love that had nothing to do with the Inquisition, Pinker stipulates that the Enlightenment, by definition, is intrinsically liberal. Modern tyrannies must therefore be products of counter-Enlightenment ideologies Romanticism, nationalism and the like.

John Gray: Unenlightened thinking

Dabei betont er, dass Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt zwar tatsächlich Kernbegriffe der Aufklärung waren, nicht jedoch Freiheit oder Toleranz. Stattdessen sahen viele Denker die Zukunft der Gesellschaft in einer wissenschaftlich fundierten Expertokratie. Hier nimmt dann die Wissenschaft die Rolle der Religion ein und bietet unumstößliche Wahrheiten, denen sich die Menschen unterzuordnen haben:

Comte admired the Middle Ages as a time when society was healthily “organic” and unified by a single orthodoxy; but the organic society of the future would be ruled by science, not monotheism. The superstitious faith of earlier times would be supplanted by what he called “the Religion of Humanity” – a rationalist creed in which an imaginary version of the human species would occupy the place of the Supreme Being.

John Gray: Unenlightened thinking

Der Glaube an die „Unfehlbarkeit“ der Wissenschaft ersetzt in diesem Fall ein transzendentales System durch ein anderes und rückt keineswegs das Wohlbefinden des Einzelnen in den Mittelpunkt. Hier weist Gray dann berechtigterweise darauf hin, dass eine solche Weltsicht aktuell nicht in der „westlichen“ Welt vorgelebt wird, sondern in erster Linie in China:

What if the Enlightenment’s future is not in the liberal West, now almost ungovernable as a result of the culture wars in which it is mired, but Xi Jinping’s China, where an altogether tougher breed of rationalist is in charge? It is a prospect that Voltaire, Jeremy Bentham and other exponents of enlightened despotism would have heartily welcomed .

John Gray: Unenlightened thinking

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