Licht im dunklen Mittelalter

Das europäische Mittelalter gilt allgemein als eine dunkle Zeit für die Wissenschaft, in der Armut und religiöses Dogma sämtlichen wissenschaftlichen Fortschritt verhindert haben. Mit der Zerstörung der Großen Bibliothek von Alexandria (bis zum 5. Jahrhundert) und der Eroberung der Stadt durch die Araber (im Jahr 642) endete dieser Ansicht nach die Ära des wissenschaftlichen Denkens in Europa und das Zentrum der Gelehrsamkeit verlagerte sich in den Nahen Osten.

John Freely spürt in seinem Buch Aristoteles in Oxford nun der mittelalterlichen Wissenschaft in Europa nach. Dabei stellt er die These auf, dass das Mittelalter für die Wissenschaftt keineswegs eine verlorene Zeit war, sondern in den Jahrhunderten zwischen dem Niedergang des Römischen Reichs und der italienischen Renaissance wichtige Grundlagen für das gelegt wurden, was gerne als “wissenschaftliche Revolution” bezeichnet wird.

Der Beginn der europäischen Wissenschaft in der karolingischen Renaissance

John Freely: Aristoteles in Oxford (Klett-Cotta 2014, 978-3-608-94854-7)
John Freely: Aristoteles in Oxford (Klett-Cotta 2014, 978-3-608-94854-7)

Auch für Freely stellte der Verlust der umfangreichsten Sammlung des griechisch-europäischen Wissens in Alexandria eine Zäsur der Geistesgeschichte Europas dar. Nur wenige Schriften überlebten die Zerstörung der Bibliothek und die Eroberung der Stadt durch die Araber und wurden nach Konstantinopel gebracht. Doch dieses Eregnis leitet in seinen Augen keineswegs ein oftmals beschworenes “dunkles Zeitalter” ein:

So hinterließ das klassische Wissen im nachfolgenden frühen Mittelalter nur ein schwaches Licht – eben das, was dem Brand der großen Bibliothek von Alexandria entging. Auch wenn der damalige Wissensstand nicht sehr hoch war, so wurden doch erste Schritte in Richtung einer geistigen Wiederbelebung des Abendlandes unternommen. (S. 47)

Den wichtigsten dieser Schritte markierten für Freely die Bildungsreformen Karls des Großen, die oftmals unter dem Begriff der “karolingischen Renaissance” zusammengefasst werden: beispielsweise die Einrichtung einer Hofbibliothek mit kirchlichen wie klassischen griechischen Texten oder die Förderung der Gelehrtenarbeit in den Klöstern. Auch wenn hierbei höfische und elitäre Gelehrsamkeit im Mittelplunkt standen, legte die karolingische Renaissance den Grundstein für die Entwicklung allgemeinerer Bildungsbemühungen wie der Domschulen des 9. und 10. Jahrhunderts und schließlich der Universitäten. Vorerst blieben jedoch der kaiserliche Hof und kirchliche Einrichtungen die Zentren wissenschaftlicher Arbeit.

Inspiration durch die griechisch-islamische Wissenschaft

Ein weiterer wichtiger Faktor, der die europäische Wissenschaft des Mittelalters geprägt hat, war der immer stärkere Kontakt mit der islamischen Wissenschaft, die sich mitterweile insbesondere im Anschluss an die Arbeiten Aristoteles herausgebildet hatte:

Zum Beginn des zweiten Jahrtausends war aus der Kollision der Kulturen ein Kontakt, ja eine Begegnung der Kulturen geworden, denn die damals florierende islamische Wissenschaft floss in die im Abendland neu entstehende Wissenschaft mit ein, wobei nicht nur das von den Griechen Gelernte weitergegeben wurde, sondern auch die genuinen Werke islamischer Gelehrter. Die Auswirkungen waren enorm: Sobald die Lateiner über das griechisch-islamische Wissen verfügten, erlebte die abendländische Wissenschaft einen wahren Modernisierungsschub. (S. 74-75)

Die größte Barriere stellte dabei die Sprache dar: während die klassischen Texte und teilweise auch die darauf aufbauenden islamischen Arbeiten durchaus auf griechisch vorlagen, bedurfte es langwieriger Anstrengungen, diese auch der lateinisch geprägten höfischen und kirchlichen Wissenschaft zugänglich zu machen.

Die Emanzipation von Aristoteles und der Konflikt mit der Kirche

thomasvonaquin
Thomas von Aquin (Auszug aus einem Altarbild von Carlo Crivelli, 1476)

Eines der zentralen Probleme der europäischen Wissenschaft des Mittelalters waren die Widersprüche zwischen dem aristotelischen Weltbild und der kirchlichen Doktrin. Erst Thomas von Aquin gelang es im 13. Jahrundert diese in einer Form auflösen, welche es ermöglichte, wissenschaftliche Arbeit auf der Grundlage aristotelischer Ideen in Übereinstimmung mit der Glaubenslehre durchzuführen. Damit wurde es auch möglich, sich intensiver direkt mit den klassischen Arbeiten der Griechen auseinanderzusetzen:

Bis zum 12. Jahrhundert war die abendländische Kultur so weit gediehen, dass man sich nicht mehr mit den Werken der griechisch-arabischen Wissenschaft zufrieden geben wollte. Jetzt suchte man nach Übersetzungen direkt aus dem Griechischen. Man wollte das Wissen und Denken der klassischen und hellenistischen Philosophen und Wissenschaftler tiefer durchdringen. (S. 105)

Nachdem der Konflikt zwischen dem christlichen und dem aristotelischen Weltbild weitestgehend beigelegt war, begannen europäische Wissenschaftler nach und nach, die Ideen des Aristoteles aus einem empirischen Blickwinkel zu überprüfen. Die dabei auftretenden Widersprüche führten jedoch zu einem erneuten Aufbrechen einer Konfliktlinie zwischen Wissenschaft und kirchlichem Glauben. Gleichzeitig legten sie jedoch den Grundstein für den plötzlichen Aufschwung der empirisch basierten Wissenschaft:

Doch obwohl die höhere Bildung und die wissenschaftliche Forschung in Europa weiterhin im Aristotelismus wurzelten und viele Gelehrte in ihrem Denken darin verankert blieben, begannen bei Anbruch des 13. Jahrhunderts einige von ihnen, eine neue Naturphilosophie und eine wissenschaftliche Methode zu entwickeln, die sich auf Beobachtungen und Experimente stützte – ein Balanceakt am Rande des Konflikts mit der Kirche. (S. 136)

Einen Höhepunkt erreichte dieser Konflikt in der Entdeckung und des späteren empirischen Nachweises des heliozentrischen Weltbildes, welches das dominierende geozentrische Weltbild widerlegte: nicht die Erde, sondern die Sonne bildet das Zentrum der Bewegung der nahen Himmelskörper. Es war Nikolaus Kopernikus, der Mitte des 16. Jahrhunderts die mathematische Ausarbeitung dieser Theorie vorstellte, welche zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch die Beobachtungen Galileo Galileis unterstützt wurde und schließlich im 18. und 19. Jahrhundert endgültig nachgewiesen werden konnte.

Freely macht in seinem Buch detailreich deutlich, dass die wissenschaftliche “Revolution” in Europa keineswegs revolutionär war, sondern die Konsequenz einer kontinuierlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit auch in Europa. Die Konflikte mit der Kirche und der Verlust des Zugangs zu dem klassisch-griechischen Wissen mögen die Entwicklung verzögert haben, sie erzeugten aber nicht – wie oft kolportiert – ein “dunkles” Zeitalter, in dem das Licht der Wissenschaft vollkommen erlosch.

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