Kanon-Philosophen konnten Neues einbauen ohne Altes zu zerstören
Ein grundlegendes Problem bei unserem Verständnis von Geschichte ist, dass wir sie nur im Rückblick verstehen können und dazu neigen, die heutige Situation als notwendiges Produkt dieser Geschichte zu verstehen und alles andere als ebenso notwendige Zwischenschritte. Dasselbe gilt auch für die Ideengeschichte.
Deswegen lohnt sich ein Blick auf die Philosophen (leider fast keine *innen), die heute als Kanon gelten. Hier spielt aus heutiger Perspektive die Aufklärung eine Rolle, die landläufig als der Moment des Paradigmenwechsels vom Glauben zur Vernunft gilt. Dieser Wandel erfolgte jedoch in erster Linie auf der Ebene des Narrativs. Phillip Blom geht in seinem Buch Unterwerfung jedoch auch darauf ein, warum sich diese Perspektive durchsetzen konnte – Spoiler: genau, weil sie eben das Etablierte nicht grundlegend infrage stellte:
Trotz dieser gelehrten Gegenargumente aber erwies sich die Theorie von Descartes als immens einflussreich in der Geschichte— wohl auch, weil sie Frieden schaffte zwischen der Theologie und den neu hereindrängenden Wissenschaften. Von nun an konnte die Theologie sich um die immateriellen Seelen kümmern und die Wissenschaft sich mit der ausgedehnten Materie begnügen, eine klare Gewaltenteilung, die im langsamen Rückzugsgefecht der Theologie aus der Erklärung der Welt zumindest eine Anhöhe halten konnte.
Er schließt dabei an Jonathan Israels Begriff eines „moderaten Mainstreams“ in der Philosophie an:
Der moderate Mainstream der Aufklärung zeichnet sich durch seine Kompromisse aus. Er polemisierte gegen Aberglauben, hielt aber, wie Voltaire, Religion für nützlich, um die Massen unter Kontrolle zu halten. Er machte sich lustig über Heiligenkult und Wunderglauben, aber hielt daran fest, dass hinter dem großen Uhrwerk des Universums ein genialer Uhrmacher stehen müsse. Er heroisierte die Vernunft, aber dämonisierte Spinoza, den vernünftigsten aller Denker. Er suchte die kompromisslose Anwendung der Vernunft überall, wo es nützlich war, und bremste jede allzu große philosophische Konsequenz, zur Not mit harten Sanktionen.
Irgendwie kommt mir dieses Muster bekannt vor, wenn ich an unseren aktuellen Umgang mit der beginnenden Klimakatastrophe denke: Wir versuchen alle möglichen intellektuellen und technischen Verrenkungen, um ja nicht akzeptieren zu müssen, was eigentlich offensichtlich erscheint.
Dieser Arm des breiten Flusses erlaubte der Vernunft, die Welt zu erkunden und zu unterwerfen und nach einem rationalistischen Modell zu erklären, ohne dabei dem Mysterium des Glaubens und der Existenz eines letzten Bürgen für Wahrheit, Moral und eigenes Selbstverständnis in Frage zu stellen.
Nur ist das, was wir klassischerweise als Vernunft akzeptiert haben, heute die Idee, die es neu zu denken gilt und die uns in ihrer Starrheit daran hindert, mit klarem Blick in die Welt zu schauen.