Der tiefe Graben zwischen Wissenschaft und Gesellschaft

Warum wird Homöopathie von den Krankenkassen bezahlt? Sollen wir gen­tech­nisch verän­derte Lebens­mit­tel erlauben? Was kön­nen wir gegen den Kli­mawan­del tun? All dies sind Fra­gen, in denen natur­wis­senschaftliche Erken­nt­nisse auf soziale Prozesse tre­f­fen. Der franzö­sis­che Philosoph und Sozi­ologe Bruno Latour set­zt sich mit solchen Diskus­sio­nen auseinan­der und stellt dabei wed­er den Natur- noch den Sozial­wis­senschaftlern ein gutes Zeug­nis aus.

In seinem Essay Wir sind nie mod­ern gewe­sen, das im Orig­i­nal bere­its 1987 erschien, stellt Bruno Latour dar, wie die Natur­wis­senschaften den sozialen Kon­text ihrer Ent­deck­un­gen ver­nach­läs­si­gen während gle­ichzeit­ig die Sozial­wis­senschaften die man­i­festen Dinge aus dem Blick ver­loren haben. Dabei führt er diese Veren­gung der jew­eili­gen Per­spek­tiv­en beispiel­haft auf Thomas Hobbes und Robert Boyle zurück, die jew­eils maßge­bliche Grund­la­gen für ihre Diszi­plinen gelegt haben.

Latour beschreibt, wie der Erken­nt­nis­gewinn der “mod­er­nen” Wis­senschaft in erster Lin­ie durch Prozesse der “Reini­gung” geprägt ist, in denen eine Beobach­tung, ein Phänomen oder eine Entität entwed­er der Welt der objek­tiv­en Dinge oder der Welt der gesellschaftlichen Kon­struk­tio­nen zuge­ord­net wird:

In der mod­er­nen Welt der kopernikanis­chen Rev­o­lu­tion gibt es nichts Neues. Denn sobald eine neue Entität auf­taucht, müßten wir diese zweit­eilen und ihre Orig­i­nal­ität auf zwei Pole verteilen. Ein erster Teil wan­derte nach links und würde zu »Naturge­set­zen«, ein zweier nach rechts und würde zur »englis­chen Gesellschaft des 17. Jahrhun­derts«; und dann kön­nten wir vielle­icht noch die Stelle der Erschei­n­ung markieren, diese Leer­stelle, wo die bei­den Pole wieder ver­bun­den wer­den. Schließlich müßten wir, indem wir die Zwis­chenglieder vervielfachen, das wieder verbinden, was wir soeben voneinan­der ent­fer­nt hat­ten. (S. 107)

Neben der Reini­gung iden­ti­fiziert er dem­nach auch Prozesse der Ver­mit­tlung oder “Über­set­zung” zwis­chen den bei­den Polen, welche durch deren strik­te Tren­nung notwendig wer­den. Defizite in der einen Welt wer­den so auf Prozesse in der jew­eils anderen zurück­ge­führt. Auf diese Weise sind sie erk­lärt, gle­ichzeit­ig jedoch als sys­tem­fremd ent­larvt und damit außer­halb des eige­nen Ver­ant­wor­tungs­bere­ich posi­tion­iert:

Sie [die Mod­er­nen] zogen die Natur­wis­senschaften her­an, um die unbe­grün­de­ten Ambi­tio­nen der Macht zu ent­lar­ven, die Gewißheit­en der Human­wis­senschaften, um die unbe­grün­de­ten Ambi­tio­nen der Natur­wis­senschaften und des Szi­en­tismus zu kri­tisieren. Das totale Wis­sen war endlich in greif­bare Nähe gerückt. (S. 51)

Diese bei­d­seit­ige Immu­nisierung gegenüber Kri­tik aus dem jew­eils anderen Lager führt schließlich zu ein­er immer stärk­eren Abgren­zung der bei­den Posi­tio­nen voneinan­der, während in der Real­ität eine immer stärkere Ver­mis­chung zwis­chen natur­wis­senschaftlich-tech­nis­chen wie sozial­wis­senschaftlichen Prozessen zu beobacht­en ist, die Latour beispiel­haft am HI-Virus oder dem Kli­mawan­del fest­macht.

Die Abgrenzung von der Vormoderne

Mit dieser Tren­nung der Erken­nt­nis­sphären geht eine Abgren­zung demge­genüber ein­her, was Latour das “Vor­mod­erne” nen­nt – anderen kul­turellen und erken­nt­nis­the­o­retis­chen Sys­te­men, bei denen die Tren­nung zwis­chen Natur und Kul­tur keine zen­trale Rolle spielt:

Die innere Große Tren­nung erk­lärt daher die äußere: Wir sind die einzi­gen, die einen absoluten Unter­schied machen zwis­chen Natur und Kul­tur, zwis­chen Wis­senschaft und Gesellschaft. Alle anderen, ob Chi­ne­sen oder Amerindi­an­er, Azande oder Barouya kön­nen dage­gen in unseren Augen nicht wirk­lich tren­nen zwis­chen dem, was Erken­nt­nis, und dem, was Gesellschaft ist; zwis­chen dem, was Zeichen, und dem ‚was Sache ist; zwis­chen dem, was von der Natur als solch­er kommt und dem, was jew­eilige Kul­tur ver­langt. Was sie auch tun, wie angepaßt, geregelt, funk­tion­al sie auch sein mögen, sie bleiben diesem Irrtum ver­haftet — Gefan­gene des Sozialen und der Sprache. Was wir auch tun, wie krim­inell, wie impe­ri­al­is­tisch wir sein mögen, wir entkom­men dem Gefäng­nis des Sozialen und der Sprache und erhal­ten Zugang zu den Din­gen selb­st, denn uns ste­ht eine Pforte offen: die wis­senschaftliche Erken­nt­nis. (S. 132)

Dabei überse­hen “mod­erne” Wis­senschaftler bei­der Seit­en, dass die Tren­nung zwis­chen Natur und Kul­tur selb­st eine sozial kon­stru­ierte Set­zung ist, die keineswegs objek­tiv und dem Sozialen äußer­lich ist. Sie ist Aus­druck ein­er ganz bes­timmten Welt­sicht, eines kul­turellen Sys­tems und muss daher gle­ich­berechtigt neben anderen Per­spek­tiv­en ste­hen. Somit kann sie auch selb­st zum Unter­suchungs­ge­gen­stand wer­den und muss nicht länger als selb­stver­ständliche erken­nt­nis­the­o­retis­che Grund­lage akzep­tiert wer­den.

Die Angst vor Vermittlern und Hybriden

Ein großer Vorteil der Tren­nung zwis­chen Natur und Kul­tur liegt darin, dass diese klare ana­lytis­che Per­spek­tive es erlaubt, ger­ade den Bere­ich der Natur immer stärk­er zu beherrschen. Sie ver­set­zt uns in die Lage wis­senschaftliche Erken­nt­nise zu for­mulieren, mit denen wir Krankheit­en bekämpfen, Flugzeuge und teilau­tonome Robot­er entwick­eln oder auch Pflanzen gen­tech­nisch verän­dern und an unsere Bedürfnisse anpassen kön­nen. Auf diese Weise fördert die Mod­erne jedoch die Entste­hung genau jen­er Zwis­chen­stufen und Hybri­den aus natür­lich und sozial, die ihr selb­st so ver­has­st sind:

Aber es sieht so aus, als hätte ger­ade die umfan­gre­iche Mobil­isierung der Kollek­tive schließlich die Hybri­den vervielfach, so daß der kon­sti­tu­tionelle Rah­men, der ihre Exis­tenz zwar verneint, aber ermöglicht, sie nicht mehr hal­ten kann. (S. 67)

Es gibt unzäh­lige Bere­iche, in denen natur­wis­senschaftliche nicht mehr von sozialen Fra­gen zu tren­nen sind. Die Diskus­sio­nen darüber sind jedoch meist von einem Unver­ständ­nis gegenüber dem anderen Pol gekennze­ich­net. So kri­tisieren Natur­wis­senschaftler die unsach­liche gesellschaftliche Diskus­sion über The­men wie die gen­tech­nis­che Verän­derung von Pflanzen oder die Behand­lung von “Behin­derun­gen”. Sie ignori­eren dabei jedoch den sozialen Zusam­men­hang, in dem ihre Ent­deck­un­gen zu verorten sind und die vielfälti­gen Emo­tion­al­itäten und indi­vidu­ellen Inter­pre­ta­tio­nen, denen sie aus­ge­set­zt sind. Auf der anderen Seite zeich­nen sich Akteure in sozialen Prozessen oft durch Igno­ranz und grundle­gende Skep­sis gegenüber natur­wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen aus. Damit vergeben bei­de Seit­en die Chance, von ihnen bere­its als fehler­haft iden­ti­fizierte Prozesse in ihrem eige­nen Bere­ich zu ver­ste­hen oder gar zu beheben:

Die Epis­te­molo­gen hin­ter­fragten den wis­senschaftlichen Real­is­mus und die Treue der Wis­senschaft den Din­gen gegenüber; die Poli­tolo­gen hin­ter­fragten das repräsen­ta­tive Sys­tem und die rel­a­tive Treue der Gewählten und Sprech­er. Bei­de hat­ten gemein, daß sie die Ver­mit­tler haßten und eine unmit­tel­bare, von Mit­tlern entleerte Welt woll­ten. Bei­de dacht­en sie, daß die Treue der Repräsen­ta­tion nur um diesen Preis zu haben sei, ohne je zu ver­ste­hen, daß die Lösung ihres Prob­lems jew­eils im anderen Regierungsres­sort zu suchen war. (S. 190)

Für Latour ist durch die mod­erne Vervielfachung der Hybri­den mit­tler­weile das Ende der Fah­nen­stange erre­icht und das Ende der strik­ten Tren­nung zwis­chen Natur und Kul­tur bere­its ein­geleit­et:

Sagen wir also, daß die Mod­er­nen kapit­uliert haben. Ihre Ver­fas­sung kon­nte ein paar Gegen­beispiele, ein paar Aus­nah­men verkraften, ja sie zehrte sog­ar davon. Sie ver­mag jedoch nichts mehr wenn die Aus­nah­men wuch­ern, wenn der dritte Stand der Dinge und die dritte Welt sich ver­men­gen und massen­haft in alle Ver­samm­lun­gen ein­drin­gen. (S. 68)

Eine Rückkehr in die Vormoderne?

Doch was fol­gt nun? Ist die Rück­kehr in die Vor­mod­erne der richtige Weg, um mit der Über­forderung der Mod­erne umzuge­hen? Oder doch die Flucht nach vorne in die Post­mod­erne, welche sowohl den Pol der Natur als auch den der Kul­tur grundle­gend dekon­stru­iert? Latour entschei­det sich für keinen dieser Wege, son­dern schlägt vor, aus allen Per­spek­tiv­en die Stärken zu übernehmen. Die ana­lytis­che Präzi­sion und die Reich­weite mod­ern­er Wis­senschaft und Kul­tur, die Natur und Kul­tur verbindende Welt­sicht der Vor­mod­erne sowie den skep­tis­chen Blick der Post­mod­erne, welche sich der sozial kon­stru­ierten Dimen­sion unser­er Welt­sicht bewusst ist:

Bewahren wollen wir von ihnen [den Vor­mod­er­nen]: ihre Unfähigkeit, dauer­haft zwis­chen den Net­zen und den reinen Polen von Natur und Gesellschaft zu dif­feren­zieren; ihr lei­den­schaftlich­es Inter­esse an der Pro­duk­tion von Hybri­den aus Natur und Gesellschaft, aus Ding und Zeichen; ihre Gewißheit, daß es Tran­szen­den­zen im Über­fluß gibt; ihre Fähigkeit, Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft auf viele Weisen zu begreifen, und nicht nur als Fortschritt oder Nieder­gang […]. (S. 177)

Latour schließt mit einem Plä­doy­er für eine ganzheitliche Welt­sicht, in der bei­de Pole akzep­tieren, dass sie nicht unab­hängig vom jew­eils anderen ste­hen, son­dern zen­trale Prob­leme nur gemein­sam ver­ste­hen und bewälti­gen kön­nen:

Die Hälfte unser­er Poli­tik spielt sich in Wis­senschaft und Tech­nik ab. Die andere Hälfte der Natur spielt sich in unser­er Gesellschaft ab. Set­zen wir die bei­den zusam­men, und es gibt wieder eine poli­tis­che Auf­gabe! (S. 192)

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