Mario Vargas Llosa über eine orientierungslose Moderne

Es verge­ht kaum eine Woche, in der nicht ein Feuil­leton­ist oder selb­ster­nan­nter bzw. zugeschrieben­er Intellek­tueller seinem Unbe­ha­gen über “das Inter­net”, “die Jugend” oder gle­ich “die Welt” Aus­druck ver­lei­ht. Ein weit­er­er Ver­such stammt von dem peru­anis­chen Lit­er­aturnobel­preisträger Mario Var­gas Llosa.

In seinem Buch-Essay Alles Boule­vard set­zt sich Mario Var­gas Llosa mit dem Ende der “Kul­tur” auseinan­der. Dabei wird schnell klar, dass er ein sehr klas­sis­ches Ver­ständ­nig dieses Begriffs pflegt: Für ihn ist “Kul­tur” nicht all­ge­mein jed­er Aus­druck alltäglichen Lebens, son­dern die for­male kün­st­lerische Man­i­fes­ta­tion, die sich selb­st als einge­bet­tet ver­ste­ht in eine lange Geschichte und in die Tra­di­tion der entsprechen­den Kun­st.

In sein­er Argu­men­ta­tion zum Ende der Kul­tur und der absoluten Boule­var­disierung schießt er an zahlre­ichen Stellen über das Ziel hin­aus und offen­bart ein para­dox­er­weise äußerst eurozen­trisches Welt­bild, in dem er gar die kolo­nialen Begrif­flichkeit­en von “höheren” und “niederen” Kul­turen vertei­digt. Dies macht die Lek­türe des Buch­es stel­len­weise äußerst anstren­gend, ist jedoch selb­st ein Aus­druck der tiefen Unsicher­heit über die in seinen Augen ori­en­tierungslose Mod­erne, die er in dem Buch the­ma­tisiert.

Das Ende der Gewissheiten

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Var­gas Llosa begin­nt seine Argu­men­ta­tion, indem er seinen Begriff der “Kul­tur” ausar­beit­et. Diese ist für ihn nicht ein all­ge­mein­er Begriff für Denkweisen, Rou­ti­nen und All­t­agsleben, son­dern vielmehr eine spez­i­fis­che soziale Sphäre. Diese ist von klaren Regeln, impliziten Erwartun­gen und definierten For­men geprägt, welche sich im Laufe der Zeit in der intellek­tuellen wie öffentlichen Debat­te entwick­eln.

Im Mit­telpunkt der “Kul­tur” scheint für ihn dabei die “Kun­st” zu ste­hen, also die Behand­lung uni­verseller men­schlich­er Zustände in der Form von Kunst­werken. Diese trans­portieren ihre Inhalte dabei nicht nur durch den unmit­tel­baren Aus­druck, son­dern auch durch den Zusam­men­hang, in dem sie ent­standen sind und in den sie gestellt wer­den. Was sie gegenüber dem heuti­gen “Enter­tain­ment” jedoch ausze­ich­net, ist ihr Anspruch auf zeitliche Tran­szen­denz und All­ge­me­ingültigkeit:

Der wesentliche Unter­schied zwis­chen der ver­gan­genen Kul­tur und dem heuti­gen »Enter­tain­ment« ist, dass früher ein Werk beanspruchte, die Gegen­wart zu tran­szendieren und zu über­dauern, in den kom­menden Gen­er­a­tio­nen lebendig zu bleiben, während die neuen Pro­duk­te hergestellt wer­den, um augen­blicks, wie Kekse oder Pop­corn, kon­sum­iert zu wer­den und zu ver­schwinden. (S. 29)

Diese Dauer­haftigkeit und Beständigkeit sei der mod­er­nen Boule­vard­kul­tur abhan­den gekom­men. Var­gas Llosa begrüßt zwar die all­ge­meinere Ver­füg­barkeit und bre­it­ere Zugänglichkeit von dem, was er Kul­tur nen­nt, wirft ihr jedoch gle­ichzeit­ig Beliebigkeit vor. Die stark for­mal­isierte Kul­tur, welche nur mit einem hohen Maße an Vor­bil­dung zu ver­ste­hen war, ist in seinen Augen der kurzfristi­gen Aus­rich­tung auf den aktuellen Geschmack der Men­schen gewichen. Damit wird Kul­tur zwar offen­er aber eben auch undefiniert und dezen­tri­ert:

Wir woll­ten mit den Eliten aufräu­men, denn das Priv­i­legierte, Abw­er­tende, Diskri­m­inierende, das uns mit unseren egal­itären Ide­alen allein schon aus diesem Begriff ent­ge­gen­hallte, war uns moralisch zuwider, und im Laufe der Zeit haben wir auf ver­schiedene Weise diese exk­lu­sive Bande von Schul­meis­tern, die sich für etwas Besseres hiel­ten und stolz Wis­sen. Werte und Geschmack für sich reklamierten, bekämpft und aufgerieben. Aber was wir erre­icht haben, war ein Pyrrhussieg, ein Heilmit­tel, das schlim­mer ist als die Krankheit: zu leben in ein­er ver­wirrten Welt, in der para­dox­er­weise, weil nie­mand mehr weiß, was sie eigentlich bedeutet, Kul­tur nun alles ist und nichts. (S. 69–70)

“Na und?”, kön­nte man jet­zt fra­gen, “Warum soll denn Kul­tur nicht alles und nichts sein kön­nen? Nicht sit­u­a­tiv und beliebig definiert und inter­pretiert wer­den und schließlich als die soziale Kon­struk­tion aufgedeckt wer­den, die sie ist?”

Wir wissen so viel wie nie zuvor, was aber ist mit den großen Fragen?

Für Var­gas Llosa ist die Antwort auf diese Fra­gen klar: Er sieht in der klas­sis­chen Kul­tur eine Art Spir­i­tu­al­ität, die nach dem Ver­schwinden der Reli­gion deren Platz ein­nehmen kön­nte. Für ihn ist “Kul­tur” ein Vehikel ethis­ch­er und moralis­ch­er Übereinkün­fte, ein Aus­druck von Sinn und Bedeu­tung und damit schließlich von Ori­en­tierung. Sie bildet eine Grund­lage für die freie Inter­ak­tion und die Ent­fal­tung des Einzel­nen. Sie schafft den notwendi­gen Rah­men für kün­st­lerischen Aus­druck und gesellschaftliche Debat­ten und enthebt sie der kurzfristi­gen medi­alen Aufmerk­samkeit, um für ein Min­dest­maß an Sta­bil­ität zu sor­gen:

Nie haben wir in einem an wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen und tech­nis­chen Neuerun­gen so reichen Zeital­ter gelebt wie heute, noch in einem, das bess­er gerüstet gewe­sen wäre, um Krankheit­en, Unwis­senheit und Armut zu besiegen; und gle­ich­wohl waren wir vielle­icht nie so rat­los, wenn es um fun­da­men­tale Fra­gen geht wie: Was tun wir auf diesem unserem Gestirn ohne eigenes Licht, wenn das bloße Über­leben das einzige Ziel und die alleinige Recht­fer­ti­gung für das Leben ist? Bedeuten Wörter wie Geist, Ide­al und Sol­i­dar­ität, Liebe und Lust, Kun­st und Schöp­fung, Schön­heit, Seele, Tran­szen­denz noch etwas, und wenn ja, was? Auf­gabe der Kul­tur war es, eine Antwort auf solche Fra­gen zu geben. Heute ist sie der­gle­ichen Ver­ant­wor­tung enthoben, denn wir haben aus ihr etwas sehr viel Ober­fläch­licheres und Flüchtigeres gemacht: eine Form des Zeitvertreibs für das große Pub­likum oder ein rhetorisches, okkultes und obsku­rantes Spielchen für eitle Zirkel von Akademik­ern und Intellek­tuellen, die der Gesellschaft die Schul­ter zeigen. (S. 214)

Für Var­gas Llosa unter­gräbt die Boule­var­disierung der “Kul­tur” die Grund­la­gen unser­er mod­er­nen Welt. Noch sei vie­len nicht bewusst, welche zen­trale Rolle sta­bile Gewis­sheit­en und etablierte Fun­da­mente auch für uns mod­erne Men­schen spie­len. Schwindet nach der Reli­gion – deren Ver­drän­gung in das Pri­vate er expliz­it gutheißt – nun auch die Kul­tur fehlt uns in seinen Augen der Boden unter den Füßen.

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