Wie sich das Selbst in der Moderne selbst erfinden muss

Die Ablö­sung religiös­er Glaubenssys­teme, die ohne hin­ter­fragt wer­den zu kön­nen unsere Welt­sicht bes­tim­men, gilt als eine der wichtig­sten Errun­gen­schaften der let­zten Jahrhun­derte. Die Idee der Frei­heit durch­dringt das aufgek­lärte west­liche Denken der­maßen, dass die vol­lkommene Hingabe an eine Reli­gion oder eine Sache vielfach undenkbar erscheint. Doch mit dem Recht, sein Leben frei gestal­ten zu kön­nen, kommt auch eine unüber­schaubare Vielzahl von Möglichkeit­en und der Zwang Entschei­dun­gen zu tre­f­fen.

Der Philosoph Wil­helm Schmid argu­men­tiert in seinem Buch Mit sich selb­st befre­un­det sein, dass diese Frei­heit uns vor eine neuar­tige Auf­gabe stellt: unser Selb­st durch bewusstes Denken und Han­deln eigen­ständig zu erar­beit­en.

Selbstverständliche Zusammenhänge lösen sich auf

Das Gegen­mod­ell der Mod­erne ist die religiöse oder durch den Stammeszusam­men­hang geprägte Gesellschaft. Bei­de zeich­nen sich in erster Lin­ie dadurch aus, dass sie fest etablierte Sinnzusam­men­hänge bere­it­stellen, in denen sich einzelne Per­so­n­en verorten müssen. Sie bes­tim­men über die Prinzip­i­en der Erziehung, die Inhalte der Aus­bil­dung und die for­malen und informellen Regeln des Zusam­men­lebens. Sie stellen unter­schiedliche Entwick­lungsmöglichkeit­en bere­it und ermöglichen es dem Einzel­nen, bes­timmte vordefinierte Posi­tio­nen und Rollen einzunehmen. Das meta­ph­ysis­che wie das prak­tis­che Lebenswis­sen gel­ten als geset­zt und wer­den nicht hin­ter­fragt, son­dern nahezu unverän­dert von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion weit­erg­ere­icht.

Diese Selb­stver­ständlichkeit des Wis­sens und seine Über­tra­gung von ein­er Gen­er­a­tion auf die näch­ste lösen sich in der Mod­erne auf. Vielmehr leben Töchter und Söhne in vielfälti­gen Zusam­men­hän­gen, in denen das durch die Eltern ver­mit­telte Wis­sen nurmehr ein Ange­bot darstellt und oft­mals bere­its ver­al­tet ist:

Prak­tis­ches Leben­wis­sen wird in der Mod­erne nicht mehr von Per­son zu Per­son, von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion weit­erg­ere­icht; die fortschre­i­t­ende Befreiung hat diese Kette unter­brochen. So find­et sich das Indi­vidu­um allein in seinem begren­zten Leben­shor­i­zont wieder, die Ressourcen eines über­liefer­ten, gemein­samen Leben­wis­sens bleiben ihm ver­schlossen und es begin­nt danach zu fra­gen, wo Leben­shil­fe zu bekom­men sei. (S. 40)

Prak­tis­ches Lebenswis­sen wie meta­ph­ysis­ches Wis­sen über die Welt müssen damit immer wieder neu erar­beit­et und aus den zahlre­ichen Möglichkeit­en selb­st zusam­mengestellt und inte­gri­ert wer­den. Zugle­ich gilt es, diesen eige­nen Bezug zu der Welt auch in der Inter­ak­tion mit anderen zu bestäti­gen und neben der eige­nen Überzeu­gung auch eine Ein­bet­tung in ein soziales Umfeld zu etablieren.

In der Kon­se­quenz wird die Her­aus­bil­dung des Selb­st immer stärk­er zu einem Prozess, der bewusst betrieben und ges­teuert wer­den muss. Damit stellt die mod­erne Frei­heit den Einzel­nen vor eine schwere Auf­gabe, für die er kaum vor­bere­it­et scheint:

Sie sehen sich vor die Auf­gabe gestellt, selb­st nach Ori­en­tierung zu suchen und ihr Leben selb­st zu führen, ohne sich dafür gerüstet zu fühlen. (S. 9)

Routinen etablieren eine Form

Der Einzelne muss die Frei­heit, han­deln und denken zu kön­nen wie es den eige­nen Überzeu­gun­gen entspricht, nutzen, um seinem Selb­st eine Form zu geben. Dabei schränkt er als Akt der freien Entschei­dung seinen eige­nen Spiel­raum ein, indem er bes­timmte Ideen für sich akzep­tiert und andere ver­wirft. Er muss aus der amor­phen Frei­heit also eine neue Form gestal­ten, welche die Kom­plex­ität der Welt für ihn beherrschbar macht.

Ein wichtiges Ele­ment ein­er solchen Form sind Gewohn­heit­en, also Hand­lun­gen, welche dem Selb­st in ein­er Gestalt eingeschrieben sind, dass sie unhin­ter­fragt durchge­führt wer­den. Sie stellen Schmid zufolge eine Erle­ichterung dar, welche einen sicheren Hafen bietet und es erlaubt, in anderen Bere­ichen kon­tinuier­lich Entschei­dun­gen zu tre­f­fen:

Zu Recht ist die mod­erne Zeit stolz darauf, eine Fülle von Wahlmöglichkeit­en geschaf­fen zu haben: aber pausen­los zu wählen, stellt sich als zu anstren­gend her­aus. Nur dadurch, dass ein großer Teil des Lebens wie von selb­st abläuft. lassen sich Kräfte auf den »Rest« konzen­tri­eren. Nur Gewohn­heit­en sor­gen für zeitweilige Erhol­ung, ja mehr noch: Sie ermöglichen ein Wohnen, das als eigentlich­es Wohnen gel­ten muss. denn zu Hause ist das Selb­st dort, wo das Leben ver­traut ist und wo es sich gebor­gen fühlt: dafür aber sor­gen Gewohn­heit­en. (S. 153)

Damit wird der All­t­ag zu einem zen­tralen Ele­ment der Selb­st­bil­dung, da er die ehe­mals selb­stver­ständliche Sinnzusam­men­hänge erset­zt und zum Fix­punkt der Lebens­gestal­tung wird. Das, was wir für selb­stver­ständlich hal­ten, wird damit zwar zu ein­er bewussteren Entschei­dung, wir kön­nen es jedoch nicht ein­fach plöt­zlich hin­ter­fra­gen und umge­hen. Gle­ichzeit­ig erlaubt uns ein stark struk­turi­ert­er All­t­ag den Umgang mit unvorherge­se­henen Ereignis­sen oder ein­er bewusst gesucht­en Unsicher­heit:

In der bedrohlichen Unüber­sichtlichkeit der Welt ist der All­t­ag die schützende Höh­le, über­wölbt von der Ver­trautheit des Gewohn­ten, gele­gentlich durch­brochen vom Unge­wohn­ten, das gesucht wird oder unge­fragt here­in­bricht, unweiger­lich aber durch Wieder­hol­ung und Regelmäßigkeit erneut zum All­t­ag wird. (S. 159)

Auch wenn die Frei­heit der Mod­erne die Möglichkeit­en der Lebens­gestal­tung vervielfacht, befre­it sie uns nicht von dem Bedürf­nis nach sta­bilen Lebens- wie Sinnzusam­men­hän­gen. Vielmehr müssen wir uns das Selb­st bewusst erar­beit­en und den unzäh­li­gen Möglichkeit­en selb­st eine Form geben, in der wir uns einge­bun­den und ver­ankert fühlen. Der All­t­ag wird damit zu ein­er zen­tralen Voraus­set­zung für Expe­di­tio­nen in die unbekan­nte Wild­nis.

Quellen

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