Was die Wissenschaft von afrikanischen Fährtenlesern lernen kann

Seit der wis­senschaftlichen Rev­o­lu­tion gilt der Königsweg für das Erlan­gen echt­en Wis­sens als ent­deckt: die Zer­legung der Welt in möglichst kleine Kom­po­nen­ten, denen in kon­trol­lierten Exper­i­menten ihre Geheimnisse abgerun­gen wer­den. In einem ständi­gen Wech­sel­spiel aus The­o­rien, Hypothe­sen und empirischen Dat­en wer­den dann Erken­nt­nisse erzeugt. Dabei wer­den Wis­senssys­teme, die sich nicht aus Exper­i­ment und The­o­rie speisen, son­dern aus über­liefer­t­er Erfahrung und implizitem Wis­sen bzw. Ver­ste­hen, meist ignori­ert. Auch der größere Zusam­men­hang bleibt oft außen vor.

Forschungsprojekt „Tracking in a Cave“

Was passieren kann, wenn Wis­senschaftler die etablierten Meth­o­d­en nutzen und dabei gle­ichzeit­ig auf das etablierte Wis­sen indi­gen­er Völk­er zurück­greifen, zeigt das Forschung­spro­jekt „Track­ing in a Cave“ der bei­den deutschen Archäolo­gen Tilman Lenssen-Erz und Andreas Pas­toors: Um die Spuren in ein­er mit steinzeitlichen Fels­malereien geschmück­ten Höh­le in den Pyrenäen zu ver­ste­hen, arbeit­eten sie mit drei Fährten­le­sern vom Volk der San aus Namib­ia zusam­men. Während die mod­erne Wis­senschaft diese Spuren bis­lang in erster Lin­ie ver­messen und einige ad-hoc-The­o­rien über ihre Bedeu­tung angestellt hat, erhof­fen sich die bei­den Archäolo­gen von den Fährten­le­sern eine Inter­pre­ta­tion der Spuren inner­halb des Kon­textes der Höh­le und des Lebens der Früh­men­schen. Eine äußerst inter­es­sante Doku­men­ta­tion hierzu ist bei Arte aktuell online zu sehen lei­der nicht mehr online ver­füg­bar.

Die Grenzen der Wissenschaft

Damit zwei so unter­schiedliche Grup­pen zusam­me­nar­beit­en kön­nen, müssen sie zuerst ver­ste­hen, wie die jew­eils Anderen denken und ihre Welt lesen. Dabei wird schnell deut­lich, dass die Fährten­leser nicht mit dem abstrak­ten ver­ste­hen­den Blick auf Spuren blick­en, son­dern mit dem eines Jägers, der sofort erken­nt, welche Spuren für die Jagd rel­e­vant sind und welche nicht. Genauer betra­chtet wer­den dann nur die frischen Spuren.

Nach­dem die bei­den Wel­ten sich aufeinan­der einge­spielt hat­ten, ging es dann an die Inter­pre­ta­tion der steinzeitlichen Spuren aus den Pyrenäen. Dabei macht­en die San den west­lichen Forsch­ern schnell die Gren­zen ihres Wis­sens über diese Spuren klar: So ließen sich Mod­elle eines Sets von Spuren nicht inter­pretieren, da alle Kopi­en mit dem­sel­ben Mod­ell eines Fußes gemacht wur­den, aber ursprünglich von unter­schiedlichen Men­schen stammten.

Beson­ders deut­lich wur­den die Ver­säum­nisse der mod­er­nen Wis­senschaft bei der Inter­pre­ta­tio­nen der Spuren in ein­er anderen Höh­le: Hier galt bish­er die Hypothese, dass eine aus­gewählte Gruppe von Män­nern in einem bes­timmten Raum ein religiös-mys­tis­ches Rit­u­al abge­hal­ten haben kön­nte. Den Fährten­le­sern war jedoch rel­a­tiv schnell klar, dass hier eine bunte Gruppe von Früh­men­schen – Män­ner, Frauen und Kinder – unter­schiedlichen Alters ein­fach ihrem Tages­geschäft nachge­gan­gen war, ver­mut­lich auf dem Weg zu ein­er Lehm-Ent­nahmestelle.

Das Verschwinden des Zusammenhangs

Dass die San zu ein­er solch detail­lierten Aus­sage kamen, liegt sicher­lich in einem hohen Maße an ihren unglaublichen Fähigkeit­en, Spuren zu lesen und zu inter­pretieren. Es weist uns aber auch auf einen Aspekt von Wis­sen hin, der in der mod­er­nen Wis­senschaft oft­mals überse­hen wird – ger­ade in den eher quan­ti­ta­tiv ori­en­tierten Teil­bere­ichen der Sozial- und Human­wis­senschaften: Jede Mes­sung, jede Beobach­tung, jedes Arte­fakt und jede Spur ist immer(!) Teil eines über­greifend­en Kon­textes. Wir kön­nen sie nur dann ver­ste­hen, wenn wir sie in diesem Kon­text inter­pretieren. In einem anderen Zusam­men­hang bekom­men sie eine vol­lkom­men neue Bedeu­tung.

Die San ver­ste­hen jede Spur als Teil ein­er Sequenz von Spuren und kön­nen aus deren Gestalt und der Kon­fig­u­ra­tion unter­schiedlich­er Sequen­zen Rückschlüsse ziehen, die den Mes­sun­gen der mod­er­nen Wis­senschaftler ver­bor­gen bleiben. Dabei wiesen sie teil­weise auf sehr offen­sichtliche Dinge hin, die die Wis­senschaftler bis­lang überse­hen hat­ten: So gab es beispiel­sweise zu einem Set Spuren die Hypothese, an dieser Stelle hät­ten Men­schen getanzt. Die Fährten­leser schätzten das Alter ein­er Per­son jedoch auf ca. 12 Jahre und merk­ten anschließend an, dass die Raumhöhe zu niedrig sei, als dass ein Kind in dem Alter dort noch aufrecht gehen, geschweige denn tanzen, könne.

Diese Blind­heit für den Kon­text und die Geschicht­en, die hin­ter Mes­sun­gen, Daten­punk­ten und einzel­nen Beobach­tung ste­hen, scheint ein immer größeres Prob­lem für die mod­erne Sozial­wis­senschaft zu wer­den. Die soziale Welt wird in immer kleinere Kom­po­nen­ten zer­legt und unter­schiedliche Teil­bere­iche der Gesellschaft wer­den los­gelöst voneinan­der betra­chtet. Dabei geben die etablierten Meth­o­d­en wis­senschaftlichen Arbeit­ens die Per­spek­tive vor und brin­gen den Forsch­er oft dazu, sich in Details zu verzetteln und diese über zu inter­pretieren. So gerät der Zusam­men­hang aus dem Blick, in dem diese Details zu inter­pretieren sind.

Geschichten statt Zusammenhangsmaße

Statt aus Dat­en möglichst präzise und quan­tifizier­bare schein­bar „objek­tive“ Zusam­men­hänge zu extrahieren, muss es darum gehen, Geschicht­en zu rekon­stru­ieren, die die zahlre­ichen unter­schiedlichen Hypothe­sen und Erken­nt­nisse zusam­men­führen, und diese Geschicht­en rig­orosen Tests zu unterziehen. Dabei ist es unverzicht­bar, dass Wis­senschaftler aus unter­schiedlichen Bere­ichen zusam­me­nar­beit­en und dabei auch solche Men­schen ein­beziehen, die unverzicht­bare Ein­blick in das jew­eilige The­menge­bi­et haben – eben genau wie die Fährten­leser der San.

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