Vom Wissen zum Handeln [Essay]

Was ist eigentlich dieses ominöse „Wis­sen“? Wer mit Holz arbeit­et, sollte wis­sen, welche Arten von Holz es gibt, welche Eigen­schaften es besitzt und wie man am besten mit ihm arbeit­et. Wis­sen wir das über das Wis­sen als das Mate­r­i­al, mit dem wir arbeit­en?

Eine Annäherung an das Wis­sen stellt die Frage, ob es „objek­tiv“ und „richtig“ sein kann oder let­ztlich immer „sub­jek­tiv“ bleibt. Aber was hil­ft uns diese the­o­retis­che Frage, wenn wir im All­t­ag mit Wis­sen arbeit­en? Wenn wir Wis­sen nutzen wollen, um gute Entschei­dun­gen zu tre­f­fen und kom­pe­tent zu han­deln? Zumal dieses Wis­sen meist nicht in die Kat­e­gorie ein­deutiger Antworten auf klare Fra­gen fällt, son­dern kom­plexe Abwä­gun­gen mit unvoll­ständi­gen Infor­ma­tio­nen verbindet?

Statt mich also in philosophis­che zu Tiefen begeben, wie das zum Beispiel Rodol­fo Jardón tut, möchte ich in diesem Essay einen prag­ma­tis­cheren Weg gehen. Ich will zeigen, was passiert, wenn wir Wis­sen als Grund­lage des Han­delns ver­ste­hen – denn darum geht es schließlich meist in der Wis­sensar­beit.

Wissen und Handeln

Starten möchte ich diese Über­legun­gen mit einem Ansatz, den William Per­ry schon 1970 vorgeschla­gen hat: Er unter­schei­det vier Stufen des „Wis­sens über das Wis­sen“ (er nen­nt das per­sön­liche Epis­te­molo­gie). Ler­nende soll­ten jede dieser Stufen durch­schre­it­en, um am Ende ein angemessenes Ver­ständ­nis von Wis­sen zu haben:

Auf der ersten Stufe, der ein­fachen Dual­ität, wird „Wis­sen“ als eine ein­deutige Wahrheit ver­standen. Als eine klare und objek­tive Antwort auf eine Frage. Diese Wahrheit muss lediglich gefun­den und den Men­schen ver­mit­telt wer­den, die dieses Wis­sen brauchen. Es gibt der­ar­tiges ein­fach­es Wis­sen: „Wie schnell beschle­u­nigt der Ball, wenn ich ihn fall­en lasse?“, „Welche Unter­la­gen brauche ich, um einen Reisep­a­ss zu beantra­gen?“ Hier sind die Antworten ein­fach und im Grunde in einem Lehrbuch nachzule­sen.

Sobald die Fra­gen aber kom­plex­er wer­den, zeigt sich die zweite Stufe: die Idee des vielfälti­gen Wis­sens. Hier gibt es nicht mehr die eine richtige Antwort, son­dern mehrere Ideen und Vorschläge, eine leb­hafte wis­senschaftliche Diskus­sion und unter­schiedliche Ansätze, die zu unter­schiedlichen Ergeb­nis­sen führen und die sich dur­chaus auch wider­sprechen kön­nen. Diese Vielfalt ist jedoch ein tem­porär­er Zus­tand, bevor sich gezeigt hat, welche dieser Ideen denn jet­zt die einzig richtige Antwort liefert. In den Natur­wis­senschaften war fast alles Wis­sen, das wir heute als ein­deutig gültig ver­ste­hen, zu irgen­deinem Zeit­punkt mal nur eine The­o­rie unter vie­len im Sinne des vielfälti­gen Wis­sens. Und auch heute gibt es noch viele ungek­lärte Fra­gen, bei denen mehrere The­o­rien gle­icher­maßen nebeneinan­der ste­hen. Auch bei All­t­ags­fra­gen gibt es oft unter­schiedliche Ideen und Über­legun­gen, sodass wir Entschei­dun­gen auf ein­er unvoll­ständi­gen Infor­ma­tion­s­grund­lage tre­f­fen müssen.

Die dritte Stufe, der Rel­a­tivis­mus, geht dann noch einen Schritt weit­er und stellt die Frage in den Raum, was passiert, wenn es unter der Vielzahl von Ideen eben nicht die eine richtige Antwort gibt, son­dern sie gle­ich­berechtigt nebeneinan­der ste­hen bleiben. Wenn die „Richtigkeit“ der Antwort von der Per­spek­tive der Per­son abhängt, die eine Frage beant­wortet, oder von der Zeit und dem Raum, in dem sie gestellt wird? Solch­es Wis­sen pro­duzieren wir in erster Lin­ie in den Sozial­wis­senschaften, die in ihrer Arbeit immer zu ein­er konkreten Zeit an einem konkreten Beispiel arbeit­en müssen und nur schw­er darüber hin­aus ver­all­ge­mein­ern kön­nen: Was vor zehn Jahren noch galt, kann heute ver­al­tet sein. Was in Ham­burg gilt, kann in München falsch sein.

Den Abschluss find­et die intellek­tuelle und moralis­che Entwick­lung der Men­schen dann Per­ry zufolge in der vierten Stufe, dem verbindlichen Wis­sen. Hier geht es nicht mehr um die objek­tive Gel­tung von Wis­sen und dessen nachgewiesene Richtigkeit. Vielmehr rück­en die Hand­lun­gen in den Mit­telpunkt, die wir aus unserem Wis­sen ableit­en. Ich als Per­son muss eine bewusste oder unbe­wusste Entschei­dung tre­f­fen, welch­es Wis­sen ich meinem Han­deln zugrunde lege. Dabei bin ich grund­sät­zlich frei, muss mich dann aber im Anschluss auch den Kon­se­quen­zen meines Han­delns stellen. Ich muss die entsprechende Ver­ant­wor­tung übernehmen, mein Han­deln reflek­tieren und eventuell auch anpassen. Das Wis­sen ste­ht dann nicht mehr im luftleeren Raum, son­dern ganz konkret in ein­er bes­timmten Hand­lungssi­t­u­a­tion. Dabei entschei­de ich als Handelnde*r, welch­es Wis­sen ich für gut und hil­fre­ich erachte.

Wissen und Corona

Diese Idee des verbindlichen Wis­sens kon­nten wir während der Coro­na-Pan­demie sehr schön beobacht­en: Während die einen zu Hause blieben, Masken tru­gen, sich sozial dis­tanzierten und die Ver­bre­itung abschwächt­en, lebten die anderen ihr nor­males Leben weit­er und trieben damit die Pan­demie. Offizielle Quellen waren dabei nicht immer hil­fre­ich zu unter­schei­den, was „richtiges“ und was „falsches“ Han­deln ist, sodass viele anfin­gen, sich ihre eige­nen Regeln zu machen. Dazu schreibt Sascha Lobo:

Stattdessen habe ich aus den medi­al ver­mit­tel­ten Erken­nt­nis­sen von Fach­leuten, aus sit­u­a­tiv­er Abwä­gung und auch nach Erträglichkeit eigene Coronaregeln entwick­elt. Sie funk­tion­ieren für mich viel bess­er als die Regeln des Staates und des Lan­des Berlin, in dem ich lebe. […] Denn obwohl ich meine Posi­tion vor mir und der Öffentlichkeit recht­fer­ti­gen kann, halte ich diese Entwick­lung für nicht beson­ders gut.

Und genau diese Recht­fer­ti­gung, diese Ver­ant­wor­tung ist das, was einen angemesse­nen und gereiften Umgang mit Wis­sen aus­macht. Eben nach der klas­sis­chen Formel „nach bestem Wis­sen und Gewis­sen“. Wobei die Anforderun­gen daran, wie gut das „beste“ dabei sein muss, sich an der Ern­sthaftigkeit der Kon­se­quen­zen messen lassen soll­ten: Bei der Entschei­dung für oder gegen einen Com­put­er kann das sich­er lock­er­er gese­hen wer­den als bei ein­er Mil­lio­nen-Entschei­dung im Unternehmen oder während ein­er glob­alen Pan­demie. Aber auch hier kommt wieder die Frage ins Spiel: Wer trägt die Kon­se­quen­zen, wenn Wis­sen ver­wen­det wird, das der Sit­u­a­tion nicht angemessen ist? Und unter­schei­den wir dabei danach, ob diese Fehler­haftigkeit bere­its im Vorhinein zu erken­nen gewe­sen wäre?

Wissen, Vertrauen und Verantwortung

Dieser Blick auf das Wis­sen macht echte Wis­sensar­beit eigentlich erst möglich, weil er sich nicht an der tat­säch­lichen Objek­tiv­ität ori­en­tiert, son­dern an der prak­tis­chen Angemessen­heit in ein­er konkreten Sit­u­a­tion. Und er erlaubt uns, viele Fra­gen zu stellen, die ein abstrak­ter Begriff von Wis­sen uns nicht hätte stellen lassen – zum Beispiel nach der Rolle, die Ver­trauen in dieser Sit­u­a­tion spielt. Denn wir kön­nen nicht alles Wis­sen, das wir für unsere Entschei­dun­gen brauchen, selb­st über­prüfen oder gar selb­st entwick­eln.

Vielmehr ver­trauen wir in Men­schen, die uns dieses Wis­sen ver­mit­teln und wir ver­trauen in eine Wis­senschaft, die dieses Wis­sen gener­iert. Dabei richtet sich dieses Ver­trauen in die Wis­senschaft weniger auf einzelne Per­so­n­en, son­dern auf den abstrak­ten wis­senschaftlichen Prozess, wie Gus­tav Seibt sehr schön beschreibt (Lei­der hin­ter Pay­wall). Das Ver­trauen in Per­so­n­en oder Prozesse ist dabei nicht mehr von unserem Ver­trauen in das Wis­sen zu tren­nen.

Damit wird die Frage nach dem Umgang mit wis­senschaftlichem Wis­sen noch kom­pliziert­er, als sie es vorher schon war: Mit Wis­sen, das wir als „objek­tiv richtig“ ver­ste­hen, kön­nen wir uns als Per­son aus der Ver­ant­wor­tung ziehen – der gute alte „Sachzwang“ in sein­er wis­senschaftlich nachgewiese­nen Form. Wir han­deln in diesem Moment nicht als Indi­vidu­um, das eine Entschei­dung trifft, son­dern als eine Art Medi­um, das die wis­senschaftliche Wahrheit kanal­isiert. Wir real­isieren den Willen der Welt.

Wenn wir aber die Vielschichtigkeit des Wis­sens ein­beziehen und unser Ver­trauen hiere­in, ver­lieren wir diesen Schutzschild, müssen nun doch als Per­son han­deln und selb­st die Ver­ant­wor­tung für dieses Han­deln tra­gen. Damit wird „die Wis­senschaft“ von der Instanz, die mein Wis­sen zer­ti­fiziert, zu ein­er weit­eren Stimme, die um meine Wahrnehmung und mein Ver­trauen wirbt. Und zu ein­er Kon­trol­linstanz, die anderen hil­ft, mein Han­deln zu bew­erten. In dem Sinne macht sie mir das Han­deln nicht ein­fach­er, son­dern erschw­ert es: Nun ste­hen dem Inter­esse mein­er Fam­i­lie, meinen per­sön­lichen Wün­schen und den Erwartun­gen mein­er Reli­gion plöt­zlich wis­senschaftliche Argu­mente ent­ge­gen. So ver­mis­chen sich Moral, Ethik, gesellschaftliche Erwartung, per­sön­liche Wün­sche und Wis­senschaft zu ein­er untrennbaren Melange, aus der her­aus wir unsere Entschei­dun­gen tre­f­fen.

Selbstbewusstsein, Expertise und Verantwortung

Was heißt das nun aber für uns Wissensarbeiter*innen? Es gibt uns auf der einen Seite die Frei­heit, unsere eige­nen Entschei­dun­gen zu tre­f­fen, auf der Grund­lage des Wis­sens, das wir in der konkreten Sit­u­a­tion für angemessen hal­ten. Gle­ichzeit­ig erlegt es uns aber die Ver­ant­wor­tung auf, diese Entschei­dun­gen recht­fer­ti­gen zu kön­nen und im Zweifel die Ver­ant­wor­tung dafür zu tra­gen. Auf diese Weise macht es uns zu Profis, die mit ihrer spez­i­fis­chen Exper­tise und Erfahrung Prob­leme lösen, Entschei­dun­gen tre­f­fen und damit in kom­plex­en und unüber­sichtlichen Sit­u­a­tio­nen kom­pe­tent han­deln kön­nen.

Dies ist ein älter­er Text, der zuerst in meinem kur­zlebi­gen Newslet­ter Denken als Prax­is erschienen ist.

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