Über die Lebenskunst und die Freundschaft mit sich selbst

Wir fühlen uns gerne frei. Wir lieben das Gefühl, unge­bun­den zu sein und den eige­nen Inter­essen und Nei­gun­gen nachge­hen zu kön­nen, ohne dabei von gesellschaftlichen Erwartun­gen und religiösen Kon­ven­tio­nen eingeschränkt zu wer­den. Doch gle­ichzeit­ig müssen wir ler­nen, mit dieser Frei­heit umzuge­hen. Mit seinem Konzept der Leben­skun­st gibt uns der Philosoph Wil­helm Schmid einen Leit­faden an die Hand.

Die Frei­heit, unser Leben zu gestal­ten, wie wir es wollen, bedeutet gle­ichzeit­ig eine Verpflich­tung, für uns selb­st her­auszufind­en, was wir denn eigentlich wollen. Der Sinn in unserem Leben kommt nicht länger aus der Reli­gion, der Fam­i­lien­tra­di­tion oder der Liebe für die Heimat, son­dern ist ein Ergeb­nis unser­er eige­nen freien Entschei­dung. So schreibt Wil­helm Schmid in seinem Buch Mit sich selb­st befre­un­det sein:

Wenn Sinn nicht mehr von selb­st zur Ver­fü­gung ste­ht, dann begin­nt die Arbeit des Selb­st an den Zusam­men­hän­gen des eige­nen Lebens, soll es trotz allem sin­nvoll gelebt wer­den. (S. 399)

Gle­ichzeit­ig bietet Schmid wertvolle Hin­weise, wie wir diesen Prozess gestal­ten kön­nen, ohne dabei an der fehlen­den Ori­en­tierung zu verzweifeln.

Pläne und bewusste Arbeit

Auch heute ist es noch(?) möglich, sich dem Fluss des Lebens zu über­lassen und sich von dessen Strö­mung treiben zu lassen, ohne eine aktive Rolle in der Gestal­tung einzunehmen. Doch mit zunehmender Bil­dung und der wach­senden Vielfalt als Optio­nen wird dies immer sel­tener als befriedi­gend wahrgenom­men und ist auch gesellschaftlich immer weniger akzep­tiert. Wir müssen Schmid zufolge zu Leben­skün­stlern wer­den – in dem Sinne, dass “Kun­st von Kön­nen kommt”. Wir müssen ler­nen, unser Leben bewusst selb­st zu gestal­ten und es zu einem Kunst­werk zu machen, in dem wir uns wahrhaftig aus­drück­en.

Den entschei­den­den Schritt untern­immt das einzelne Selb­st, wenn es die Wahl trifft, seine Selb­st­bes­tim­mung zu beanspruchen und wahrzunehmen oder nicht: denn Selb­st­bes­tim­mung ist keine Norm, son­dern eine Option. (S. 123)

Die Entschei­dung, die eigene Selb­st­bes­tim­mung zu beanspruchen, wird damit zu dem Moment, in dem wir entschei­den, das Leben nicht länger pas­siv zu erdulden oder uns irgend­wie durchzu­mo­geln, son­dern es selb­st und aktiv in die Hand zu nehmen. Das heißt nicht, dass wir ab jet­zt unab­hängig von unser­er Umge­bung wären, jede unser­er Ideen umset­zen kön­nen und alle unsere Wün­sche erfüllt bekom­men. Es bedeutet lediglich, dass wir den Anspruch an uns selb­st entwick­eln, unser Denken und unser Han­deln bewusst zu pla­nen und zu gestal­ten:

Daher macht es dur­chaus Sinn zu pla­nen – nur nicht mit der Erwartung, das Leben werde sich dem fügen, eher um eine eigene Vorstel­lung zu for­mulieren und somit ein Kor­rek­tiv fürs Leben zu gewin­nen: Hier­an lässt sich ermessen, wie »anders als gedacht« es kommt, um dann darüber nach­denken, was davon hinzunehmen ist und was nicht. (S. 65)

Damit wird nicht länger die Reli­gion, die Tra­di­tion oder die gesellschaftliche Erwartung zur Richtschnur unseres Lebens, son­dern unsere eige­nen Ide­ale, Ideen und Prinzip­i­en. Die kon­tinu­tier­liche Entwick­lung und Anpas­sung ein­er solchen Richtschnur beze­ich­net Schmid als Leben­skun­st.

Die Freundschaft mit sich selbst

cup-of-tea

Diese selb­st­bes­timmte Herange­hensweise an das Leben führt als erste Kon­se­quenz dazu, dass wir uns aus der Gesellschaft her­aus­lösen. Wir akzep­tieren ihre Glaubenssätze nicht länger als selb­stver­ständlich, son­dern haben den Mut, uns unseres eige­nen Ver­standes zu bedi­enen. Damit ent­ge­ht uns aber auch die Bestä­ti­gung, die es bringt, ein selb­stver­ständlich­er Teil ein­er funk­tion­ieren­den Gesellschaft zu sein und ihre Erwartun­gen zu erfüllen. Wir ver­lieren soziale Unter­stützung, die wir jet­zt auf anderen Wegen ein­holen müssen. Einen solchen Weg sieht Schmid dabei in der engen Fre­und­schaft mit sich selb­st:

Denn wie mit einem wahren Fre­und kann der Umgang mit sich selb­st gestal­tet wer­den: freimütig und offen, reich­haltig und vielfältig, nicht lang­weilig und zuweilen rät­sel­haft; zuweilen geht es darum, sich zu scho­nen und zu pfle­gen, denn ohne Erhol­ung wird keine Mühe zu bewälti­gen sein: zuweilen sich zu mühen und sich her­auszu­fordern, denn im Genuss allein wird das Glück nicht zu find­en sein. (S. 22)

Auch wenn wir unser Leben bewusst pla­nen und gestal­ten wollen, heißt dies nicht, dass wir in einen Opti­mierungswahn ver­fall­en und uns beständig zu Höch­stleis­tun­gen antreiben sollen. Im Gegen­teil ist der schwierig­ste Teil an dieser Entwick­lung, einen entspan­nten Umgang mit sich selb­st zu find­en. Wer ken­nt nicht die Selb­st­ge­spräche, in denen man sich selb­st kasteit für das Aus­fal­l­en­lassen der eigentlich täglich geplanten Jog­ging-Runde oder den blö­den Fehler auf der Arbeit? Inkon­sis­ten­zen und schlechte Tage sollte man sich, wie eben einem guten Fre­und, verzei­hen und sich immer wieder auch um das eigene Wohlbefind­en küm­mern:

Das Selb­st kann sich zuweilen einen Mor­gen, einen Abend, einen ganzen Tag schenken, ohne »Verpflich­tun­gen«, ohne drän­gende Arbeit, auch wenn sie drängt, um nur da zu sein für sich selb­st. Ideell bleibt das Geschenk auch dann, wenn es materiell in Erschei­n­ung tritt: Ein Abend im Kino, ein Gespräch mit dem Fre­und, eine geliebte Musik, eine Stunde der Muße im Café, eine Ein­ladung zum Essen nur für sich selb­st, um auf diese Weise sich selb­st die Wertschätzung zuteil wer­den zu lassen. die von anderen vielle­icht erhofft wor­den war. (S. 329)

Diese Fre­und­schaft mit sich selb­st impliziert nicht eine Über­höhung der eige­nen Per­son in der Form eines Selb­stkultes, son­dern betont vielmehr, was wir oft­mals vergessen: dass wir uns auch um uns selb­st und unsere Beziehung zu uns selb­st sor­gen müssen – im Sinne ein­er Selb­stkul­tur.

Selbstlosigkeit als freie Entscheidung

piano

Im Rah­men ein­er aktiv­en Leben­skun­st ist auch die bewusste Selb­st­losigkeit ein wichtiges Werkzeug für die Gestal­tung des eige­nen Lebens. Sie ist nicht mehr vorgegeben, wie die Hingabe an eine Reli­gion oder die Heimat, son­dern eine bewusste Entschei­dung, die jed­erzeit wider­rufen wer­den kann. Sie zwingt uns nicht in Lebens­for­men, in denen wir nicht wir selb­st sein kön­nen, son­dern erlaubt uns das Ein­tauchen in einen sozialen Zusam­men­hang, in dem das Selb­st die Verbindun­gen find­en kann, auf die es angewiesen ist:

Die Sorge um sich läuft also nicht darauf hin­aus, am Selb­st um jeden Preis festzuhal­ten: Sie kann auch bedeuten, sich von ihm zu lösen und Selb­st­losigkeit zu leben. Das Selb­st ist kein Selb­stzweck, es kann verzicht­bar sein. Von vorn­here­in verzicht­bar ist es in fes­ten Bindun­gen der Tra­di­tion, Kon­ven­tion, Reli­gion, Unter den Bedin­gun­gen der Befreiung hier­von bedarf das Selb­st jedoch, um abse­hen zu kön­nen von sich (sofern es diese Option wahrnehmen will), eines wil­lentlichen Selb­stverzichts, der ihm ermöglicht, sich anderen und Anderem zuzuwen­den, zeitweilig oder dauer­haft, aus gefühlten oder über­legten Grün­den. (S. 182–183)

Nur wenn wir mit uns selb­st befre­un­det sein kön­nen und in der Lage sind, bewusste Selb­st­losigkeit zu leben, sind wir in der Lage unser Leben bewusst und aktiv zu gestal­ten; uns auf der einen Seite von gesellschaftlichen Zwän­gen zu emanzip­ieren und auf der anderen Seite dabei nicht einem selb­st­süchti­gen Selb­stkult zu ver­fall­en. Wir kön­nen frei sein und uns ver­bun­den fühlen, kön­nen unsere Flügel ausstreck­en und wis­sen, dass es Wurzeln gibt, die uns hal­ten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert