Struktur kann bei der Autorin oder dem Leser entstehen

Meine Über­legun­gen zur Rolle der Entropie beim Lesen und Schreiben brin­gen mich zu einem weit­eren inter­es­san­ten Punk­te: der Frage danach, wer eigentlich die Energie auf­bringt, die Entropie in einem Ideen- und Gedanken­sys­tem zu reduzieren, also ihm eine sta­bile Struk­tur zu geben: die Autorin oder der Leser?

In der klas­sis­chen Kom­mu­nika­tions­forschung gibt es daran keinen Zweifel: Dem Sender-Empfänger-Mod­ell nach liegt es in der Ver­ant­wor­tung der Schreiben­den, die zu über­tra­gen­den Infor­ma­tio­nen so zu struk­turi­eren, dass sie möglichst ver­lust- und verz­er­rungs­frei auf der anderen Seite beim Empfänger ankom­men, hier möglichst ein­fach ver­ar­beit­et und an das eigene Denken angeschlossen wer­den kön­nen.

Die Idee gilt allerd­ings zu Recht seit län­gerem bere­its als zu vere­in­facht und der kom­plex­en Real­ität des Kom­mu­nizierens nicht angemessen: Im anderen Extrem schreibt zum Beispiel Niklas Luh­mann, dass gelin­gende Kom­mu­nika­tion in diesem Sinne dreifach unwahrschein­lich sei.

In eine ähn­liche Rich­tung zielt auch das hier vorgestellte entro­pis­che Mod­ell, das in der Wahrnehmung ein­er Kom­mu­nika­tion immer einen Moment der explo­sion­sar­ti­gen Zunahme der Entropie in einem Ideen­sys­tem sieht. Die entste­hende Entropie kann dann erst in einem erweit­erten Ideen­sys­tem im Kopf der Lesenden unter entsprechen­dem Ein­satz von Energie wieder reduziert wer­den.

Losere Textstrukturen als wirksamere Inspiration

Das bringt uns dann aber zu der entschei­den­den Frage: Wenn die eigentliche Inte­gra­tion in das Denken ohne­hin in hohem Maße vom Denksys­tem der Leser*innen abhängig ist, warum wen­den Autor*innen dann über­haupt ein der­art hohes Maß an Energie auf, um ihre Gedanken in eine lin­eare Form zu kom­prim­ieren? Lassen sich hier vielle­icht mehrere unter­schiedliche Funk­tio­nen von Ideen und Tex­ten unter­schei­den, bei denen jew­eils eine engere und eine weit­ere Struk­tur­führung sin­nvoll scheinen?

Inhaltlich, sach­liche Argu­mente, die Lesende von ein­er konkreten Per­spek­tive überzeu­gen wollen: Hier ist eine engere Struk­tur sin­nvoll, weil die ver­wen­de­ten Ideen und Gedanken an sich nicht unbe­d­ingt in das Denken der Lesenden inte­gri­ert wer­den sollen. Stattdessen geht es um eine Argu­men­ta­tion zu einem konkreten Sachver­halt, der an sich dur­chaus bere­its Teil des Denksys­tems der Lesenden sein kann, dessen Wahrheitswert jedoch unklar ist. Hier erre­ichen struk­turi­erte Argu­mente und Fak­ten (möglicher­weise) bess­er ihr Ziel als dif­fuse Denkanstöße und unkonkrete Inspi­ra­tio­nen.

Bei Tex­ten, die auf dif­fusere Denkanstöße oder unkonkretere Inspi­ra­tion abzie­len, ist eine zu enge Führung im Text möglicher­weise hin­der­lich. Sie reduziert die Anschlussfähigkeit. Hier ist eine offenere, assozia­ti­vere Struk­tur hil­fre­ich, die genau diese Anschlussfähigkeit betont und dabei gle­ichzeit­ig nicht alle denkbaren Anschlüsse vorherse­hen kann bzw. wollen sollte. Sie gibt lediglich Anstöße – bzw.im luh­mannschen Sinne Irri­ta­tio­nen -, die dem Denksys­tem des Empfängers ermöglichen, eigene Ideen weit­erzuen­twick­eln oder eine neue Per­spek­tive zu gewin­nen.

Wenn man das Erstellen von Noti­zen dabei als Kom­mu­nika­tion meines heutiges Ichs mit meinem zukün­fti­gen Ich ver­ste­ht, wird deut­lich, warum auch hier nicht-lin­eare Notizsys­teme wie Zettelkästen helfen kön­nen, die die Entropie nicht zu weit reduzieren, sie aber den­noch zeitlich sta­bil­isieren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert