Natur- und Sozialwissenschaften unterscheiden sich grundlegend

Eine Diskus­sion, in die ich mich immer wieder ein­bringe ist die zum Unter­schied zwis­chen Natur- und Sozial­wis­senschaften. Daher ist es vielle­icht mal sin­nvoll, hier meine zen­tralen Posi­tio­nen etwas aus­führlich­er zu ver­schriftlichen, um dann später bess­er darauf ver­weisen zu kön­nen.

Dynamik des Untersuchungsgegenstands

Ein wichtiger Punkt in den Sozial­wis­senschaften gegenüber den Natur­wis­senschaften ist die Dynamik des Unter­suchungs­ge­gen­standes: Eine zen­trale axioma­tis­che Annahme der Natur­wis­senschaft ist, dass die Naturge­set­ze in einem sehr weit­en Rah­men kon­stant sind, zeitlich wie räum­lich: Was hier gilt, gilt auch drei Galax­ien weit­er und was jet­zt gilt, galt auch vor eini­gen Mil­liar­den Jahren. Einzig ganz spezielle und rel­a­tiv klar definier­bare „Phasenübergänge“, wie z.B. der Big Bang oder der Wech­sel in den sub­atomaren Bere­ich sor­gen dafür, dass die bekan­nten Geset­ze nicht mehr gel­ten. Der Unter­suchungs­ge­gen­stand der Natur­wis­senschaften ist also weitest­ge­hend kon­stant. Das führt dazu, dass die Forscher:innen über Jahrhun­derte hin­weg nach und nach immer mehr Wis­sen über einzelne Phänomene zusam­men­tra­gen kon­nten und sich so im Laufe der Zeit ein immer voll­ständi­geres Bild ergab.

In den Sozial­wis­senschaften ist der Unter­suchungs­ge­gen­stand sowohl in der Zeit als auch im „Raum“ hoch-dynamisch. Erken­nt­nisse, die ich für das heutige Deutsch­land gewinne, kön­nen auch auch für das Deutsch­land in zehn Jahren gel­ten – müssen aber nicht. Sie kön­nen auch für die heuti­gen Nieder­lande oder das heutige Ecuador gel­ten – müssen aber nicht. Dabei ist alleine schon die klare Abgren­zung ein­er deutschen von ein­er nieder­ländis­chen „Kul­tur“ prob­lema­tisch – weil sich bei­de über die Jahrhun­derte hin­weg bee­in­flusst und ver­mis­cht haben, wenn sie denn jemals getren­nt waren. Dazu kommt dann die zeitliche Kom­po­nente: Nicht nur verän­dert sich der Unter­suchungs­ge­gen­stand mit der Zeit, das, was war, ist auch unwieder­bringlich ver­loren und besten­falls durch kul­turelle Arte­fak­te (Doku­mente, zeit­genös­siche Berichte, …) zugänglich.

Die höhere Kom­plex­ität der Gesellschaft als Unter­suchungs­ge­gen­stand wird durch eine weit­ere Eigen­heit der SoWis ver­schärft: Die fehlen­den Möglichkeit­en, diese Kom­plex­ität für Forschungszwecke zu reduzieren.

Fehlende Möglichkeit, Komplexität zu reduzieren

Im Mit­telpunkt der natur­wis­senschaftlichen empirischen Über­prü­fung ste­ht das Exper­i­ment. Hier wird die Kom­plex­ität eines Phänomens durch das Schaf­fen ein­er kün­stlichen Umge­bung so weit reduziert , dass nur noch sehr wenige Ein­flussvari­ablen eine Rolle spie­len – im Ide­al­fall sog­ar nur noch eine.

Den Sozial­wis­senschaften ste­ht eine solche Erken­nt­n­is­form nicht zur Ver­fü­gung. Sie kön­nen nicht „mal eben“ in ein­er Gesellschaft für 10 Jahre die Kul­tur anpassen und in ein­er anderen nicht und dann schauen, was passiert. Und selb­st wenn das gin­ge, gäbe es immer noch hun­derte wenn nicht tausende ander­er möglich­er Vari­ablen, die den Ver­lauf des Exper­i­ments bee­in­flussen kön­nten. Sozialwissenschaftler:innen sehen sich also immer der gesammten Kom­plex­ität des gesellschaftlichen Lebens kon­froniert, auch wenn sie nur einen kleinen Teilaspekt unter­suchen möcht­en.

Es gibt zwar mit­tler­weile exper­i­mentelle Sozial­wis­senschaften, diese kön­nen jedoch nur einen sehr kleinen Teil an Fra­gen über­haupt beant­worten und laufen hier auch wieder in das Prob­lem, dass Ergeb­nisse sehr stark an dem konkreten kul­turellen Kon­text des Exper­i­ments hän­gen und entsprechend schw­er zu ver­all­ge­mein­ern sind. Schon die exper­i­mentelle Ver­hal­tenspsy­cholo­gie stößt immer wieder an ihre Gren­zen und diese betra­chtet nur ein einzelnes Indi­vidu­um und muss nicht zusät­zlich die Wech­sel­wirkun­gen und Inter­ak­tio­nen zwis­chen mehreren Ind­viduen berück­sichti­gen. Das führt zum Beispiel dazu, dass sozialer Kon­text in Exper­i­menten zur Entwick­lung­shil­fe kaum berück­sichtig wer­den kann.

Eine der Voraus­set­zun­gen für die präzisen und weitest­ge­hend zuver­läs­si­gen Aus­sagen der Natur­wis­senschaften ist außer­dem ihre Möglichkeit, einen Unter­suchungs­ge­gen­stand extrem präzise zu definieren und diesen dann in Exper­i­menten isolieren zu kön­nen. So wird eine math­e­ma­tis­che Mod­el­lierung oder sog­ar Prog­nose möglich. Husserl spricht hier von „selb­st-erzeugten Ide­al­isierun­gen“, also der Arbeit mit ein­er abstrahierten Ver­sion des Gegen­stands, die bes­timme Aspek­te her­vorhebt und andere aus­blendet (vgl. Muster von Armin Nasse­hi). Dies ist für die Sozial­wis­senschaften auf­grund der kom­plex­en Wech­sel­wirkun­gen nicht möglich.

Die Natur­wis­senschaften ken­nen ähn­liche Phänomene und unter­suchen sie in der Chaos­the­o­rie. Dabei stoßen math­e­ma­tis­che Mod­elle schon bei rel­a­tiv ein­fachen Prob­le­men an ihre Gren­zen, wie zum Beispiel bei dem Drei-Kör­p­er-Prob­lem.

Geringe Personalausstattung in den Sozialwissenschaften

Aus der Kom­plex­ität des Unter­suchungs­ge­gen­standes ergibt sich ein weit­eres prak­tis­ches Prob­lem, auf das mich Ada Palmer gebracht hat: In den Sozial- und Geis­teswis­senschaften arbeit­en meist nur wenige einzelne Wissenschaftler*innen an ein­er konkreten Fragestel­lung. In den Natur­wis­senschaften sind es teil­weise mehrere Forschungs­grup­pen, die sich mit der­sel­ben Fragestel­lung beschäfti­gen.

Quellen

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