Licht im dunklen Mittelalter

Das europäis­che Mit­te­lal­ter gilt all­ge­mein als eine dun­kle Zeit für die Wis­senschaft, in der Armut und religiös­es Dog­ma sämtlichen wis­senschaftlichen Fortschritt ver­hin­dert haben. Mit der Zer­störung der Großen Bib­lio­thek von Alexan­dria (bis zum 5. Jahrhun­dert) und der Eroberung der Stadt durch die Araber (im Jahr 642) endete dieser Ansicht nach die Ära des wis­senschaftlichen Denkens in Europa und das Zen­trum der Gelehrsamkeit ver­lagerte sich in den Nahen Osten.

John Freely spürt in seinem Buch Aris­tote­les in Oxford nun der mit­te­lal­ter­lichen Wis­senschaft in Europa nach. Dabei stellt er die These auf, dass das Mit­te­lal­ter für die Wis­senschaftt keineswegs eine ver­lorene Zeit war, son­dern in den Jahrhun­derten zwis­chen dem Nieder­gang des Römis­chen Reichs und der ital­ienis­chen Renais­sance wichtige Grund­la­gen für das gelegt wur­den, was gerne als “wis­senschaftliche Rev­o­lu­tion” beze­ich­net wird.

Der Beginn der europäischen Wissenschaft in der karolingischen Renaissance

Auch für Freely stellte der Ver­lust der umfan­gre­ich­sten Samm­lung des griechisch-europäis­chen Wis­sens in Alexan­dria eine Zäsur der Geis­tes­geschichte Europas dar. Nur wenige Schriften über­lebten die Zer­störung der Bib­lio­thek und die Eroberung der Stadt durch die Araber und wur­den nach Kon­stan­tinopel gebracht. Doch dieses Ereg­nis leit­et in seinen Augen keineswegs ein oft­mals beschworenes “dun­kles Zeital­ter” ein:

So hin­ter­ließ das klas­sis­che Wis­sen im nach­fol­gen­den frühen Mit­te­lal­ter nur ein schwach­es Licht – eben das, was dem Brand der großen Bib­lio­thek von Alexan­dria ent­ging. Auch wenn der dama­lige Wis­sens­stand nicht sehr hoch war, so wur­den doch erste Schritte in Rich­tung ein­er geisti­gen Wieder­bele­bung des Abend­lan­des unter­nom­men. (S. 47)

Den wichtig­sten dieser Schritte markierten für Freely die Bil­dungsre­for­men Karls des Großen, die oft­mals unter dem Begriff der “karolingis­chen Renais­sance” zusam­menge­fasst wer­den: beispiel­sweise die Ein­rich­tung ein­er Hof­bib­lio­thek mit kirch­lichen wie klas­sis­chen griechis­chen Tex­ten oder die Förderung der Gelehrte­nar­beit in den Klöstern. Auch wenn hier­bei höfis­che und elitäre Gelehrsamkeit im Mit­telplunkt standen, legte die karolingis­che Renais­sance den Grund­stein für die Entwick­lung all­ge­meiner­er Bil­dungs­be­mühun­gen wie der Dom­schulen des 9. und 10. Jahrhun­derts und schließlich der Uni­ver­sitäten. Vor­erst blieben jedoch der kaiser­liche Hof und kirch­liche Ein­rich­tun­gen die Zen­tren wis­senschaftlich­er Arbeit.

Inspiration durch die griechisch-islamische Wissenschaft

Ein weit­er­er wichtiger Fak­tor, der die europäis­che Wis­senschaft des Mit­te­lal­ters geprägt hat, war der immer stärkere Kon­takt mit der islamis­chen Wis­senschaft, die sich mit­ter­weile ins­beson­dere im Anschluss an die Arbeit­en Aris­tote­les her­aus­ge­bildet hat­te:

Zum Beginn des zweit­en Jahrtausends war aus der Kol­li­sion der Kul­turen ein Kon­takt, ja eine Begeg­nung der Kul­turen gewor­den, denn die damals flo­ri­erende islamis­che Wis­senschaft floss in die im Abend­land neu entste­hende Wis­senschaft mit ein, wobei nicht nur das von den Griechen Gel­ernte weit­ergegeben wurde, son­dern auch die gen­uinen Werke islamis­ch­er Gelehrter. Die Auswirkun­gen waren enorm: Sobald die Latein­er über das griechisch-islamis­che Wis­sen ver­fügten, erlebte die abendländis­che Wis­senschaft einen wahren Mod­ernisierungss­chub. (S. 74–75)

Die größte Bar­riere stellte dabei die Sprache dar: während die klas­sis­chen Texte und teil­weise auch die darauf auf­bauen­den islamis­chen Arbeit­en dur­chaus auf griechisch vor­la­gen, bedurfte es lang­wieriger Anstren­gun­gen, diese auch der lateinisch geprägten höfis­chen und kirch­lichen Wis­senschaft zugänglich zu machen.

Die Emanzipation von Aristoteles und der Konflikt mit der Kirche

Eines der zen­tralen Prob­leme der europäis­chen Wis­senschaft des Mit­te­lal­ters waren die Wider­sprüche zwis­chen dem aris­totelis­chen Welt­bild und der kirch­lichen Dok­trin. Erst Thomas von Aquin gelang es im 13. Jahrun­dert diese in ein­er Form auflösen, welche es ermöglichte, wis­senschaftliche Arbeit auf der Grund­lage aris­totelis­ch­er Ideen in Übere­in­stim­mung mit der Glaubenslehre durchzuführen. Damit wurde es auch möglich, sich inten­siv­er direkt mit den klas­sis­chen Arbeit­en der Griechen auseinan­derzuset­zen:

Bis zum 12. Jahrhun­dert war die abendländis­che Kul­tur so weit gediehen, dass man sich nicht mehr mit den Werken der griechisch-ara­bis­chen Wis­senschaft zufrieden geben wollte. Jet­zt suchte man nach Über­set­zun­gen direkt aus dem Griechis­chen. Man wollte das Wis­sen und Denken der klas­sis­chen und hel­lenis­tis­chen Philosophen und Wis­senschaftler tiefer durch­drin­gen. (S. 105)

Nach­dem der Kon­flikt zwis­chen dem christlichen und dem aris­totelis­chen Welt­bild weitest­ge­hend beigelegt war, began­nen europäis­che Wis­senschaftler nach und nach, die Ideen des Aris­tote­les aus einem empirischen Blick­winkel zu über­prüfen. Die dabei auftre­tenden Wider­sprüche führten jedoch zu einem erneuten Auf­brechen ein­er Kon­flik­tlin­ie zwis­chen Wis­senschaft und kirch­lichem Glauben. Gle­ichzeit­ig legten sie jedoch den Grund­stein für den plöt­zlichen Auf­schwung der empirisch basierten Wis­senschaft:

Doch obwohl die höhere Bil­dung und die wis­senschaftliche Forschung in Europa weit­er­hin im Aris­totelis­mus wurzel­ten und viele Gelehrte in ihrem Denken darin ver­ankert blieben, began­nen bei Anbruch des 13. Jahrhun­derts einige von ihnen, eine neue Natur­philoso­phie und eine wis­senschaftliche Meth­ode zu entwick­eln, die sich auf Beobach­tun­gen und Exper­i­mente stützte – ein Bal­anceakt am Rande des Kon­flik­ts mit der Kirche. (S. 136)

Einen Höhep­unkt erre­ichte dieser Kon­flikt in der Ent­deck­ung und des späteren empirischen Nach­weis­es des heliozen­trischen Welt­bildes, welch­es das dominierende geozen­trische Welt­bild wider­legte: nicht die Erde, son­dern die Sonne bildet das Zen­trum der Bewe­gung der nahen Him­mel­skör­p­er. Es war Niko­laus Kopernikus, der Mitte des 16. Jahrhun­derts die math­e­ma­tis­che Ausar­beitung dieser The­o­rie vorstellte, welche zu Beginn des 17. Jahrhun­derts durch die Beobach­tun­gen Galileo Galileis unter­stützt wurde und schließlich im 18. und 19. Jahrhun­dert endgültig nachgewiesen wer­den kon­nte.

Freely macht in seinem Buch detail­re­ich deut­lich, dass die wis­senschaftliche “Rev­o­lu­tion” in Europa keineswegs rev­o­lu­tionär war, son­dern die Kon­se­quenz ein­er kon­tinuier­lichen Entwick­lung der wis­senschaftlichen Arbeit auch in Europa. Die Kon­flik­te mit der Kirche und der Ver­lust des Zugangs zu dem klas­sisch-griechis­chen Wis­sen mögen die Entwick­lung verzögert haben, sie erzeugten aber nicht – wie oft kol­portiert – ein “dun­kles” Zeital­ter, in dem das Licht der Wis­senschaft vol­lkom­men erlosch.

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