Der Rückzug aus der Gemeinschaft aus Angst vor dem Fremden

Kli­mawan­del, Ter­ro­ran­schläge und die immer wieder aufwal­lende Wirtschaft­skrise sind nur drei der aktuellen Entwick­lun­gen, die den Ein­druck erweck­en, unsere Welt sei immer weniger kon­trol­lier­bar. Als Kon­se­quenz wird der Rück­zug in das Pri­vate und der Auf­bau ein­er eige­nen, über­schaubaren Welt zu einem immer größeren gesellschaftlichen Phänomen. Auch der us-amerikanis­che Sozi­ologe Richard Sen­nett beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch Zusam­me­nar­beit mit der abnehmenden Bere­itschaft – und vielle­icht auch Fähigkeit – der Men­schen, sich auf koop­er­a­tive oder gar kollek­tive Zusam­men­hänge einzu­lassen.

Für Sen­nett ist der Men­sch grund­sät­zlich ein soziales Tier, dem die Zusam­me­nar­beit und Koop­er­a­tion mit anderne in die Wiege gelegt ist, wie er aus­führlich anhand der frühkindlichen Entwick­lung der Koop­er­a­tions­fähigkeit erläutert. Im Anschluss zeigt er jedoch auf, wie die zen­tralen Grund­la­gen für unter­schiedliche For­men der Koop­er­a­tion – ins­beson­dere solch­er, welche nicht auf einem klar definierten Inter­essen­saus­tausch oder etablierten Macht­struk­turen basieren – immer weit­er erodieren.

Rituale als Anker sozialer Einbettung

Im Mit­telpunkt von Sen­netts Argu­men­ta­tion ste­ht die Beobach­tung, dass Kom­mu­nika­tion und Inter­ak­tion nicht in erster Lin­ie auf der expliziten Inhalt­sebene stat­tfind­en, son­dern stark von unter­schwelligem Aus­tausch und sozialen Erwartun­gen geprägt sind. Neben ein­er inter­es­san­ten Kri­tik an der Vorstruk­turierung der Koop­er­a­tion durch dig­i­tale Werkzeuge wie das mit­tler­weile eingestellte Google Wave betont er dabei ins­beson­dere die ord­nende und struk­turi­erende Funk­tion von Rit­ualen und Zer­e­monien.

Zer­e­monien entheben die Men­schen ger­ade der Notwendigkeit, für sich selb­st zu sprechen und den Men­schen darzustellen, der sie sind. Die Teil­nehmer find­en Zugang zu einem größeren, gemein­samen Aus­drucks­bere­ich. (S. 130)

Auf diese Weise ent­las­ten sie auf der einen Seite das Ich und auf der anderen Seite zeigen sie dem Einzel­nen seine Zuge­hörigkeit zu etwas Größerem. So kön­nen sie an sich sinnlose Aktiv­itäten mit einem hohen Maß an Bedeu­tung und Befriedi­gung aufladen. Rit­uale binden den Einzel­nen an seine Umge­bung, sie machen ihn zuge­hörig und markieren seinen Sta­tus. So reduzieren sie Unsicher­heit­en und bieten Ori­en­tierung.

Solche Prozesse sind jedoch nur dann pos­i­tiv zu bew­erten, wenn die auf diese Weise geschaf­fene Zuge­hörigkeit des Einzel­nen auf Augen­höhe geschieht. Sen­nett beschreibt hier, dass Rit­uale im Laufe der Zeit immer mehr zu Spek­takeln gewor­den sind, an denen Einzelne nicht mehr selb­st teil­nehmen, son­dern die sie pas­siv beobacht­en:

Aber schon damals war klar, dass etwas mit der Gemeinde und dem Indi­vidu­um geschah, wenn Rit­uale in ein Spek­takel ver­wan­delt wur­den. Das Spek­takel ver­lei­ht der Gemein­schaft eine hier­ar­chis­che Struk­tur, in der die Unteren zuse­hen und dienen, aber nicht als Indi­viduen von eigen­ständi­gem Wert mitwirken (S. 150–151)

Zum Spek­takel degradiert, stärkt das Rit­u­al nicht mehr den Einzel­nen in sein­er sozialen Posi­tion, son­dern unter­wirft ihn ein­er etablierten Macht­struk­tur.

Rückzug aus Angst vor den Bedürfnissen Anderer

Je mehr klas­sis­che Rit­uale zum Spek­takel verkom­men, desto weniger Struk­tur stiften sie für die direk­te Inter­ak­tion auf Augen­höhe. Auf diese Weise verkom­plizieren sie soziale Kon­fig­u­ra­tio­nen, in denen die unter­schiedlichen Posi­tio­nen nicht mehr klar definiert und erkennbar sind. Sie schwächen auch die eigene Posi­tion, die eben­so unscharf und unsich­er wird. Damit begin­nt der Rück­zug aus dem Sozialen:

In der mod­er­nen Gesellschaft entste­ht ein eigen­tüm­lich­er Charak­ter­typ, ein Men­sch, der mit anspruchsvollen, kom­plex­en For­men sozialen Engage­ments nicht zurechtkommt und sich deshalb zurückzieht. (S. 241)

Beson­dere Bedeu­tung misst Sen­net dabei der Angst der Men­schen zu, die sich Denkweisen und Bedürfnis­sen aus­ge­set­zt sehen, welche sie selb­st nicht nachvol­lziehen und ver­ste­hen kön­nen. Diese wirken oft­mals auf bedrohliche Weise fremd und lösen so eine Flucht- oder Ver­mei­dungsreak­tion aus. Statt sich also in der direk­ten Inter­ak­tion mit diesen Per­spek­tiv­en auseinan­derzuset­zen, erfol­gt eine Flucht in die for­male Inter­ak­tion, welche durch abstrak­te und an ander­er Stelle bes­timmte Kri­te­rien geprägt wird. Dabei schwindet die Bere­itschaft, sich auf über­raschende und unbekan­nte Sit­u­a­tio­nen einzu­lassen:

Wer den tausend­sten indus­triell gefer­tigten Ham­burg­er isst, kann von dem Geschmack nicht son­der­lich begeis­tert sein, aber da er ihm ver­traut ist, empfind­et er ihn als angenehm. Ähn­lich­es gilt für eine Couch­pota­to, die sich wohlfühlt, wenn sie mit halbem Auge Fernsehsendun­gen ver­fol­gt, die ihre Aufmerk­samkeit nicht wirk­lich fes­seln. Bei­de erre­ichen einen hohen Wert auf der »Langeweile-Anfäl­ligkeitsskala«. Sie wün­schen sich eine Ver­trautheit, die keine Über­raschun­gen birgt. (S. 254)

Die Illusion der losgelösten Freiheit

Für Sen­nett stellt dieser Rück­zug, der durch Gle­ichgültigkeit oder Arro­ganz anderen Welt­sicht­en gegenüber geprägt ist, den ulti­ma­tiv­en Aus­druck des lib­er­al-indi­vid­u­al­is­tis­chen Ideals dar. Er macht jedoch deut­lich, dass dieses Ide­al his­torisch und auch glob­al als absolute Aus­nahme zu werten ist.

Das autonome Indi­vidu­um erscheint als frei. Doch aus der Sicht ander­er Kul­turen erscheint ein Men­sch, der stolz darauf ist, andere nicht um Hil­fe zu bit­ten, als eine zutief­st geschädigte Per­son, weil die Angst vor sozialer Ein­bindung sein Leben beherrscht. (S. 185)

Sie ist der Aus­druck ein­er europäis­chen Entwick­lung, die in der Renais­sance ihren Anfang nahm und sich in den let­zten Jahrzehn­ten endgültig durch­set­zen konte. Gle­ichzeit­ig machen die Kom­plex­ität gesellschaftlich­er wie ökonomis­ch­er Zusam­men­hänge und die unzäh­li­gen wech­sel­seit­i­gen Abhängigkeit­en eine Koop­er­a­tion unter­schiedlich­er Men­schen so unverzicht­bar wie niemals zuvor – während sie ihre Grund­la­gen unter­minieren. Dieses Span­nungsver­hält­nis, ver­bun­den mit der zunehmenden Unsicher­heit – prägt für Sen­nett das Gefühl “unser­er” Zeit:

Die Sehn­sucht nach ein­er Sol­i­dar­ität, die inmit­ten ökonomis­ch­er Unsicher­heit ein Gefühl der Sicher­heit ver­mit­teln kön­nte, führt heute zu ein­er radikalen Sim­pli­fizierung des sozialen Lebens: Abgren­zung gegen andere Grup­pen, ver­bun­den mit dem Gefühl, allein zu ste­hen und ganz auf sich selb­st angewiesen zu sein. (S. 374)

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