Der Milchkarton auf dem Beifahrersitz: dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen

Natür­lich weiß ich noch, welche Farbe das Hemd hat­te, das ich vor fast 15 Jahren zu meinem Abiball getra­gen habe, aber wo habe ich vorhin nochmal mein Handy hin­gelegt? So geht es sicher­lich jedem von uns. Immer und immer wieder. Während wir uns jed­erzeit an abstruse Dinge erin­nern kön­nen, vergessen wir im Super­markt Milch mitzunehmen oder lassen den neuen Schal in der Kneipe liegen.

In seinem neuen Buch The Orga­nized Mind begleit­et uns der Psy­chologe und Neu­rowis­senschaftler Daniel J. Lev­itin auf einen Rundgang durch die Funk­tion­sweise unseres Gedächt­niss­es und arbeit­et unter anderem her­aus, wie wir diese nutzen kön­nen, um unserem Gehirn auf die Sprünge zu helfen und den Überblick über unsere unzäh­li­gen Hab­seligkeit­en zu behal­ten.

Das Gehirn kategorisiert Wahrnehmungen, um Energie zu sparen und sich selbst zu entlasten

Lev­itin stellt her­aus, dass ein­er der zen­tralen Mech­a­nis­men des Gehirns das Einord­nen von Wahrnehmungen in gedankliche Schubladen ist. Bei der Vielzahl von Din­gen, die wir besitzen, Men­schen, denen wir begeg­nen, und Infor­ma­tio­nen, die wir im Laufe eines nor­malen Tages wahrnehmen, wären wir son­st nicht in der Lage, die Welt um uns herum auch nur in Ansätzen zu ver­ste­hen. Also wer­den alle Dack­el, Ter­ri­er, Gold­en Retriev­er und Schäfer­hunde faul in die Kat­e­gorie “Hund” ein­sortiert. Pizze­rien, Sushi-Läden und Wirtshäuser wer­den zu “Restau­rants” und Frank, Eve­lyn und Andreas zu “Obdachlosen”:

The act of cat­e­go­riz­ing helps us to orga­nize the phys­i­cal world-out-there but also orga­nizes the men­tal world, the world-in-here, in our heads and thus what we can pay atten­tion to and remem­ber. (S. 22)

Dabei ist diese Art der Klas­si­fizierung keineswegs ein bewusstes Han­deln. Sie ist nicht ein­mal ein spez­i­fisch men­schlich­er Mech­a­nis­mus:

And the clas­si­fi­ca­tions have their roots in ani­mal behav­ior, so they can be said to be pre­cog­ni­tive. What humans did was to make these dis­tinc­tions lin­guis­tic and thus explic­it­ly com­mu­ni­ca­ble infor­ma­tion. (S. 27)

Eben­so wie viele Tier­arten sind wir darauf angewiesen, unsere Wahrnehmung auf eine solche unper­fek­te Weise zu struk­turi­eren, damit wir unsere Aufmerk­samkeit kurzfristig steuern kön­nen. Anson­sten müssten wir in jedem Augen­blick eine über­wälti­gende Menge an Details aufnehmen, was unseren recht begren­zten bewussten “Arbeitsspe­ich­er” mas­siv über­fordern würde:

Our abil­i­ty to use and cre­ate cat­e­gories on the spot is a form of cog­ni­tive econ­o­my. It helps us by con­sol­i­dat­ing like things, free­ing us from hav­ing to make deci­sions that can cause ener­gy deple­tion, those hun­dreds of incon­se­quen­tial deci­sions such as “Do I want this pen or that pen?” or “Is this exact­ly the pair of socks that I bought?” or “Have I mixed near­ly iden­ti­cal socks in attempt­ing to match them?” (S. 64)

Veränderungen bringen das Gehirn dazu, seine Aufmerksamkeit auf unbekannte Dinge zu richten

Sind Kat­e­gorien ein­mal etabliert, bee­in­flussen sie mas­siv, wie wir unsere Aufmerk­samkeit lenken und die Welt um uns herum inter­pretieren. Sie bee­in­flussen damit auch, inwiefern wir uns an bes­timmte Dinge oder Ereignisse erin­nern:

[…] for behav­iors that are rou­tinized, you can remem­ber the gener­ic con­tent of the behav­ior (such as the things you ate, since you always eat the same thing), but par­tic­u­lars to that one instance can be very dif­fcult to call up (such as the sound of a garbage truck going by or a bird that passed by your win­dow) unless they were espe­cial­ly dis­tinc­tive or emo­tion­al. On the oth­er hand, if you did some­thing unique that broke your rou­tine — per­haps you had left­over Piz­za for break­fast and spilled toma­to sauce on your dress shirt — you are more like­ly to remem­ber it. (S. 51)

Wir richt­en unsere Aufmerk­samkeit dementsprechend ins­beson­dere auf Dinge, die uns bish­er unbekan­nt waren oder die unseren etablierten Wahrnehmungss­chema­ta wider­sprechen. Solange wir die Ein­drücke um uns herum mit unseren etablierten Denkmustern erfassen kön­nen, haben wir freie Kapaz­itäten um beispiel­sweise beim Aut­o­fahren über den näch­sten Urlaub nachzu­denken oder uns zu fra­gen, wie wir uns ger­ade bei der Besprechung blamiert haben kön­nten. Gle­ichzeit­ig ist unser Gedächt­nis also ger­ade bei alltäglichen und ständig in ähn­lich­er Form wieder­holten Aktiv­itäten anfäl­lig dafür, die Einzel­heit­en ein­er konkreten Sit­u­a­tion zu überse­hen oder zu vergessen.

Wir sollten möglichst viele Informationen in unsere Umgebung auslagern, um die Fehler unserers Gedächtnisses zu umgehen

Diese bei­den Prozesse – die Kat­e­gorisierung von Ein­drück­en und die Fokussierung auf neue oder über­raschende Wahrnehmungen kön­nen wir uns Lev­itin zufolge in unserem All­t­ag zunutze machen. Dafür set­zt er voll auf das Aus­lagern von Infor­ma­tio­nen in unsere physis­che (oder auch dig­i­tale) Umwelt:

The most fun­da­men­tal prin­ci­ple of the orga­nized mind, the one most crit­i­cal to keep­ing us from for­get­ting or los­ing things, is to shift the bur­den of orga­niz­ing from our brains to the exter­nal world. If we can remove some or all ofthe process from our brains and put it out into the phys­i­cal world, we are less like­ly to make mis­takes. This is not because of the lim­it­ed capac­i­ty of our brains—rather, it’s because of the nature of mem­o­ry stor­age and retrieval in our brains: Mem­o­ry process­es can eas­i­ly become dis­tract­ed or con­found­ed by oth­er, sim­i­lar items. Active sort­ing is just one of many ways of using the phys­i­cal world to orga­nize your mind. (S. 35)

Dementsprechend ist er ein großer Ver­fechter sys­tem­a­tis­ch­er Ord­nungssys­teme, in denen ähn­liche oder zusam­men­hörende Dinge gemein­sam an einem definierten Ort gelagert wer­den. Auf diese Weise muss unser Gehirn sich nicht daran erin­nern, wo denn nochmal die Pappteller, die Zahn­stocher für die Käs­espießchen und die Papier­tis­chdeck­en waren, son­dern nur wis­sen, in welch­er Schublade das Par­ty-Zube­hör lagert. Dabei kann es auch nicht schaden, bes­timmte Dinge – beispiel­sweise Scheren – mehrfach zu besitzen, ein­fach um sie in alle passenden Kat­e­gorien einord­nen zu kön­nen.

Um uns in ein­er bes­timmten Sit­u­a­tion an bes­timmte Dinge kurzfristig zu erin­nern schlägt Lev­itin eine beson­ders kreative Lösung vor:

If you’re afraid you’ll for­get to buy milk on the way home, put an emp­ty car­ton on the seat next to you in the car or in the back­pack you car­ry to work on the sub­way (a note would do, of course, but the car­ton is more unusu­al and so more apt to grab your atten­tion). The oth­er side to leav­ing phys­i­cal objects out as reminders is to put them away when you don’t need them. The brain is an exquis­ite change detec­tor and that’s why you notice the umbrel­la by the door or the milk car­ton on the car seat. But a corol­lary to that is that the brain habit­u­ates to things that don’t change. […] If the umbrel­la is by the door all the time, rain or shine, it no longer func­tions as a mem­o­ry trig­ger, because you don’t notice it. (S. 85)

Wenn wir also eine grundle­gende Idee davon haben, wie unser Gedächt­nis und die Steuerung unser­er Aufmerk­samkeit funk­tion­iert, kön­nen wir dies nutzen, um bei­de Prozesse zu ent­las­ten und men­tal­en Platz zu schaf­fen für die Dinge, mit denen wir uns ger­ade tat­säch­lich beschäfti­gen. Wie beispiel­sweise einen Blog­beitrag zu schreiben.

Quellen

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