Das Handwerk – der ungeliebte Bruder der Wissenschaft

Wis­senschaftliche Erken­nt­nisse beanspruchen gerne eine uni­verselle Gel­tung. Sie scheinen, ein­mal etabliert, unab­hängig von ihren Ent­deck­ern zu existieren und “objek­tiv” unsere Welt zu beschreiben – nicht umson­st habe ich ger­ade “ent­deck­en” im Gegen­satz zu “erfind­en” geschrieben. “Naturge­set­ze” wer­den meist in math­e­ma­tis­chen Formeln auge­drückt, die dann als angemessene Abbil­dung der ver­bor­ge­nen Struk­tur unser­er Welt gese­hen wer­den. Ins­beson­dere wer­den sie von den konkreten Umstän­den der zugrun­deliegen­den Mes­sun­gen los­gelöst.

Damit ver­leugnet die Wis­senschaft als Mundw­erk in den Augen des Mar­burg­er Philosophen Peter Janich ihren ungeliebten Zwill­ing, der für ihren Auf­schwung jedoch unverzicht­bar war: das Handw­erk. Die abstrak­te For­mulierung von Geset­zen, The­o­re­men und The­o­rien muss, wie er in seinem Buch Handw­erk und Mundw­erk – Über das Her­stellen von Wis­sen aus­führt, durch ein Bewusst­sein der man­i­festen und konkreten Hin­ter­gründe ihres Entste­hens ergänzt wer­den.

Geringschätzung des Handwerks im Zentrum der antiken griechischen Philosophie

Ihren Ursprung hat die Ger­ingschätzung des Handw­erks aus der Per­spek­tive der Wis­senschaft Janich zufolge bere­its im antiken Griechen­land, der Geburtsstätte der mod­er­nen Wis­senschaft. Hier waren es ins­beson­dere die Philosophen Aris­tote­les und Pla­ton, für die das Handw­erk eine min­der­w­er­tige Beschäf­ti­gung schien gegenüber dem The­o­retisieren und dem Streben nach Erken­nt­nis:

Der Handw­erk­er, etwa ein Schrein­er, der einen Tisch oder ein Bett her­stellt, übt seine Tätigkeit immer um ein­er anderen Sache willen aus. Er ver­fol­gt einen nicht in der Tätigkeit selb­st liegen­den Zweck. Es geht ihm etwa um nüt­zliche Möbel. Das heißt, der Sinn sein­er Tätigkeit liegt außer­halb dieser. (S. 15)

Für bei­de lag der eigentliche Wert jedoch in den Tätigkeit­en, die um ihrer selb­st Willen aus­geübt wer­den, beispiel­sweise dem Streben nach Glück oder nach Erken­nt­nis. Da die Ideen Pla­tons und Aris­tote­les eine zen­trale Grund­lage der wis­senschaftlichen Rev­o­lu­tion darstell­ten, kon­nte sich diese Ein­schätzung auch in der mod­er­nen Wis­senschaft ver­ankern. Vielmehr, sie wurde sog­ar zu einem zen­tralen Ele­ment der aufgek­lärten Philoso­phie.

So stellt Janich dar, wie die Kant’sche Idee des a pri­ori – also die Exis­tenz nicht men­schlich kon­stru­iert­er Kri­te­rien für die Wahrnehmung der Welt – die Illu­sion ver­fes­tigte, “objek­tives” Wis­sen sei möglich und unab­hängig von der Art sein­er Gewin­nung. Dieses Denken hat sich bis heute bewahrt und zeigt sich unter anderem in der unkri­tis­chen Ver­wen­dung sta­tis­tis­ch­er Dat­en und Mod­elle für die Erk­lärung, Pla­nung und Prog­nose sozialer Prozesse. Mit der Quan­ten­mechanik und den hier­mit ver­bun­de­nen the­o­retis­chen Her­aus­forderun­gen gibt es zudem auch in der Physik starke Hin­weise darauf, dass Erken­nt­nis immer auch im Kon­text ihres Entste­hens betra­chtet wer­den muss.

Die Wissenschaft als Zweck an sich

Mit diesem Selb­stver­ständ­nis ent­fer­nt sich Janich zufolge die mod­erne Wis­senschaft aus der realen Welt und ver­liert ihre Ver­ankerung. Er stellt dabei eine der zen­tralen Fra­gen der Wis­senschaft­s­the­o­rie und greift so eines der wichtig­sten Pos­tu­late der Idee von “Naturge­set­zen” an:

[…] es stellt sich die Frage, woher diese Sicher­heit und, zuvor natür­lich, woher erst ein­mal unser Wis­sen rührt, dass sich handw­erk­lich hergestellte For­men in ein­er gewis­sen Weise zueinan­der ver­hal­ten, und das per­so­n­e­nun­ab­hängig. (S. 53)

Während sich beispiel­sweise die Sozial­wis­senschaften des Prob­lems der Zeit- und Beobachter­ab­hängigkeit ihrer Erken­nt­nisse bewusst sind und daher die Idee all­ge­mein­er Geset­zmäßigkeit­en weitest­ge­hend aufgegeben haben, hän­gen die Natur­wis­senschaften weit­er­hin der Idee uni­versellen und objek­tiv­en Wis­sens an. Hierzu hat sich auch Lee Smolin in seinem Buch Im Uni­ver­sum der Zeit äußerst span­nende Gedanken gemacht, die ich hier dem­nächst vorstellen werde.

Der Unterschied zwischen Axiomen und Postulaten

Janich verortet das Vergessen der prak­tis­chen und handw­erk­lichen Grund­la­gen der Wis­senschaften an einem zen­tralen begrif­flichen Unter­schied, der in der antiken Geome­trie noch beachtet wurde, in der mod­er­nen Math­e­matik jedoch meist ignori­ert wird: dem Unter­schied zwis­chen Pos­tu­lat­en und Axiomen. Ein Axiom ist dabei eine offen­sichtlich wahre und “objek­tive” Tat­sache, die kein­er weit­eren Begrün­dung bedarf – in gewiss­er Weise also ein kant’sches a pri­ori. Ein Pos­tu­lat hinge­gen stellt eine unüber­prüfte Annahme über die Welt dar, die als Grund­lage für ein Gedanken­ex­per­i­ment dienen soll – unab­hängig davon, ob diese Annahme tat­säch­lich eine angemessene Beschrei­bung der Welt darstellt. Pos­tu­late vere­in­fachen die anschließende Argu­men­ta­tion und erlauben defin­i­tive logis­che Schlüsse, ste­hen aber immer unter dem Vor­be­halt, des „als ob“.

In den mod­er­nen Natur­wis­senschaften ist diese Unter­schei­dung zwis­chen Axiom und Pos­tu­lat Janich zufolge weitest­ge­hend ver­schwun­den. Vielmehr wer­den Aus­sagen, die eigentlich Pos­tu­late darstellen meist als Axiome ver­standen und damit die Tren­nung zwis­chen dem Mod­ell und der Welt aufge­hoben. Auf diese Weise wer­den voraus­set­zungsvolle Argu­mente zu absoluten Wahrheit­en verk­lärt und von der materiellen Welt isoliert.

Das Handwerk als Verbindung der Wissenschaft mit der materiellen Welt

Dabei wäre eine solche Iso­la­tion über­haupt nicht notwendig, wenn sich die Wis­senschaft des Handw­erks besin­nen würde, welch­es eine solche Ver­ankerung bere­its seit Jahrhun­derten sich­er­stellt – in der Form des Exper­i­ments und der Mes­sung. Die mod­erne Natur­wis­senschaft brüstet sich, mit der Meth­ode des Exper­i­ments und der Mes­sung einen Weg gefun­den zu haben, der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen, schätzt dann jedoch die Leis­tung des Handw­erks ger­ing, welch­es die notwendi­gen Appa­ra­turen und Mess­geräte pro­duziert. Denn wis­senschaftlich­er Fortschritt wird erst dann wertvoll, wenn sich die The­o­rien und Formeln in exper­i­mentellen Beobach­tun­gen oder Mes­sun­gen bestäti­gen.

Damit wer­den die Mess­geräte und Appa­ra­turen zum inte­gralen Bestandteil wis­senschaftlich­er Erken­nt­nis und die ihn ihnen ver­ar­beit­eten Ideen, Grun­dan­nah­men und Erfahrun­gen zu ihren Pos­tu­lat­en. Es ist keineswegs gesagt, dass Geräte die Welt tat­säch­lich so messen, “wie sie ist”, sie bieten vielmehr einen möglichen Zugang neben zahlre­ichen anderen. Es ist also an der Zeit, das Handw­erk als zweit­en inte­gralen Bestandteil der Wis­senschaft neben dem heute ungle­ich höher geschätzen Mundw­erk zu akzep­tieren.

Quellen

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