Warum Wissenschaft alten Wein in neue Schläuche packen muss

Ger­ade macht mal wieder eine Studie die Runde, welche sich mit dem Ein­fluss von Bild­schir­men auf das Ein­schlafen und die Qual­ität des fol­gen­den Schlafs beschäftigt. Die Resul­tate sind dabei wenig über­raschend: Wer vor dem Schlafen vier Stun­den auf ein beleuchtetes Tablet schaut und dort ein Buch liest, braucht im Anschluss länger um einzuschlafen, schläft schlechter und ist auch am näch­sten Tag weniger auf­nah­me­fähig. So weit so wenig über­raschend. Dieser Zusam­men­hang ist schon seit län­gerem bekan­nt und wird immer mal wieder in Stu­di­en bestätigt.

Inter­es­sant ist allerd­ings, wie diese Studie aufgenom­men und kom­men­tiert wird – beispiel­haft dargestellt an dem Artikel „Alter Wein in neuer E‑Read­ing-Studie: LCD-Lesen hält wach“ von Johannes Haupt auf lesen.net (Dis­claimer: Ich selb­st schreibe regelmäßig für lesen.net und das Schwest­er­pro­jekt schreiben.net). Hier wer­den näm­lich einige Dynamiken deut­lich, warum wis­senschaftliche Debat­ten und Erken­nt­nisse in der aktu­al­itäts- und nachricht­en­wert­getriebe­nen Logik von Print- wie Online-Medi­en so schw­er zu ver­mit­teln sind (An dieser Stelle gehe ich nicht auf die inhaltlichen Män­gel der Berichter­stat­tung über die Studie und der Studie selb­st ein, die Johannes tre­f­fend darstellt.).

Neue Erkenntnisse haben hohen Nachrichtenwert aber geringe wissenschaftliche Absicherung

Aktu­al­itäts­getriebene Medi­en set­zen darauf, immer wieder Neues und Unbekan­ntes auszu­graben und dieses als möglichst über­raschend und bemerkenswert dazustellen – nur so lassen sich die Leser dazu brin­gen, einen Artikel in der Flut von Ange­boten auch tat­säch­lich wahrzunehmen. Damit wis­senschaftliche Erken­nt­nise also für Medi­en inter­es­sant sind, müssen sie in irgen­dein­er Form „neu“ sein. Aus dieser Per­spek­tive ist die kri­tis­che Anmerkung des „alten Weins in neuen Schläuchen“ natür­lich gerecht­fer­tigt.

Für Wis­senschaft – ger­ade im Bere­ich Gesund­heit und Wohlbefind­en – gilt aber wiederum: eine Studie ist nur eine Studie. Für eine Absicherung von Hypothe­sen und Zusam­men­hän­gen ist es notwendig, möglichst viele Stu­di­en mit unter­schiedlichen Designs und in unter­schiedlichen Zusam­men­hän­gen durchzuführen, um sich auf diese Weise der kausalen Verbindung zwis­chen zwei Beobach­tun­gen nach und nach immer sicher­er zu wer­den.

Medi­en, die in erster Lin­ie auf den Neuigkeitswert wis­senschaftlich­er Stu­di­en blick­en, bericht­en dem­nach über wis­senschaftlich oft weniger abgesicherte Ergeb­nisse, die zu Recht dem Vor­wurf aus­ge­set­zt wer­den kön­nen, es gebe doch für alles die entsprechende Studie. Stimmt. Es gibt für fast jede Hypothese eine Studie, die sie bestätigt. Deswe­gen wer­den in der Wis­senschaft – im Ide­al­fall – nur solche Ergeb­nisse akzep­tiert, die immer und immer wieder in unter­schiedlichen Stu­di­en bestätigt wer­den. Die achte, neunte oder zehnte Rep­lika­tion hat natür­lich dann keinen Neuigkeitswert mehr.

Die Wahrnehmung wissenschaftlicher Ergebnisse ist an ihre Aktualität gebunden

Jet­zt kön­nte man natür­lich sagen: Dann sollen Medi­en halt nur über die erste Studie bericht­en, auch wenn das wis­senschaftlich vielle­icht nicht ganz sauber ist. Abge­se­hen davon, dass dies ein­er der zen­tralen Gründe dafür ist, warum ger­ade im The­men­bere­ich Ernährung so viele Mythen kur­sieren, wäre eine solche Entwick­lung auch für die Wahrnehmung wis­senschaftlich­er Ergeb­nisse in der Öffentlichkeit höchst schädlich. Wenn rel­e­vante wis­senschaftliche Ergeb­nisse nur dann öffentlich disku­tiert wer­den, wenn sie das erste Mal for­muliert wer­den, wer­den sie auch nur zu diesem Zeit­punkt wahrgenom­men.

Nun kann es aber viele Gründe geben, warum Men­schen Infor­ma­tio­nen zu einem bes­timmten Zeit­punkt nicht wahrnehmen – hier ist das dig­i­tale Lesen ein beson­ders gutes Beispiel. Bere­its im April 2010 hat­te lesen.net unter dem Titel „Forsch­er: iPad nichts für den Nacht­tisch“ von ein­er Studie mit ähn­lichen Resul­tat­en berichtet. Damals war dig­i­tales Lesen jedoch noch weitest­ge­hend ein Nis­chen­the­ma, das max­i­mal eine niedrige sechsstel­lige Anzahl an Per­so­n­en inter­essiert hat (vgl. die Studie „E‑Books in Deutsch­land“ der Unternehmens­ber­atung pwc von 2010). Heute, vier bis fünf Jahre später, ist es hinge­gen im Massen­markt angekom­men und inter­essiert wesentlich mehr Men­schen.

All diese Leser, die sich 2010 noch nicht für das dig­i­tale Lesen inter­essiert haben, wer­den ver­mut­lich von der dama­li­gen Berichter­stat­tung über den Zusam­men­hang zwis­chen beleuchteten Bild­schir­men und der Qual­ität des Schlafs wenig mit­bekom­men haben. Wür­den nun die Ergeb­nisse nicht nochmals aus den Schränken geholt und neu berichtet, stün­den sie diesen Per­so­n­en weit­er­hin nicht zur Ver­fü­gung.

Damit rel­e­vante und wis­senschaftlich immer stärk­er abgesicherte Infor­ma­tio­nen nun ihren Weg zu diesen Men­schen find­en, braucht es einen Grund, warum aktu­al­itäts­getriebene Medi­en dieses The­ma erneut aufrol­len soll­ten. Und hier kom­men die „neuen Stu­di­en“ ins Spiel, welche an sich nicht neu sind, aber in der Wis­senschaft wie in den Medi­en eine wichtige Funk­tion ein­nehmen: Für die Wis­senschaft dienen sie dazu, Hypothe­sen über Zusam­men­hänge immer weit­er abzu­sich­ern. Für die Medi­en dienen sie hinge­gen dazu, einen aktuellen Aufhänger zu haben, über ein bes­timmtes The­ma erneut zu bericht­en.

Alter Wein in neuen Schläuchen muss also nicht schlecht sein. Im Gegen­teil, gereift gewin­nt er bei neuer Auf­bere­itung an Qual­ität.

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