Zeit oder nicht Zeit, das ist hier die Frage

Für unsere alltägliche Wahrnehmung sind die Kat­e­gorien “Raum” und “Zeit” unverzicht­bare Voraus­set­zun­gen. Automa­tisch verorten wir Gegen­stände und Per­so­n­en inner­halb des Raums um uns herum und struk­turi­eren unser Erleben ent­lang eines Zeitpfeils von der Ver­gan­gen­heit über das Jet­zt in die Zukun­ft. So selb­stver­ständlich uns diese Dimen­sio­nen jedoch im All­t­ag erscheinen, so umstrit­ten sind sie in ihrer wis­senschaftlichen Betra­ch­tung.

In seinem Buch Im Uni­ver­sum der Zeit geht der us-amerikanis­che Physik­er Lee Smolin der Bedeu­tung der Zeit in der his­torischen Entwick­lung der Physik eben­so nach, wie ihrer Konzep­tion in aktuellen Ansätzen der Quan­ten­physik und der Kos­molo­gie. Dabei zeigt er auf, wie die Physik in den let­zten Jahrhun­derten die Zeit nach und nach zu ein­er Illu­sion der Wahrnehmung erk­lärt hat und aus ihren Erk­lärungsmod­ellen ausklam­mern kon­nte. Nun sieht er jedoch den Punkt gekom­men, an dem sich zeigt, dass diese Herange­hensweise ein Fehler war und die Zeit wieder Ein­gang in grundle­gende physikalis­che Erk­lärungsmod­elle find­en sollte.

Die Idee zeitloser Wahrheit

Den Ursprung der Ent­fer­nung der Zeit aus der Wis­senschaft sieht Smolin in der Idee, dass der Wahrheit immer etwas Zeit­los­es anhaftet. Dieser Gedanke geht im wis­senschaftlichen Bere­ich zurück auf Pla­ton und sein Konzept ein­er zeit­losen Welt der abstrak­ten Ideen und For­men. Hier stellen die konkreten Gegen­stände nur unper­fek­te Abbil­dun­gen ihrer ide­alen Vorstel­lun­gen dar. Der Tisch, an dem ich diesen Text ger­ade schreibe, ist dem­nach nicht an sich ein Tisch, son­dern eine Man­i­fes­ta­tion eines Ide­al­bilds von “Tisch”. Damit etabliert Pla­ton eine abstrak­te Welt der Wahrheit, welche nicht nur außer­halb unser­er sinnlichen Wahrnehmung liegt, son­dern eben auch außer­halb der Zeit. Smolin zufolge lässt sich auch das mod­erne Ide­al der Wis­senschaft in dieser Form inter­pretieren, in der Phänomene unser­er Welt lediglich als Man­i­fes­ta­tio­nen zeit­los­er und abstrak­ter Geset­zmäßigkeit­en ver­standen wer­den.

Unserem Denken über die Zeit wohnt etwas Para­dox­es inne. Wir nehmen uns selb­st als in der Zeit lebend wahr, doch wir stellen uns oft vor, dass die besseren Aspek­te unser­er Welt und unser­er selb­st über die Zeit hin­aus­ge­hen. Was etwas wirk­lich wahr macht, so meinen wir, ist nicht, dass es jet­zt wahr ist, son­dern dass es immer wahr gewe­sen ist und immer wahr sein wird. (S. 14)

Diese Denkweise hat schw­er­wiegende Kon­se­quen­zen dahinge­hend, wie wir kausale Zusam­men­hänge inter­pretieren und daran gehen, unsere Welt zu ver­ste­hen. Es reicht aus diesem Blick­winkel nicht, ein konkretes Phänomen in sein­er spez­i­fis­chen Aus­prä­gung zu ver­ste­hen, vielmehr müssen wir ein zugrunde liegen­des all­ge­meines Prinzip oder Gesetz iden­ti­fizieren, das unab­hängig von sein­er konkreten zeitlichen wie räum­lichen Veror­tung und Aus­prä­gung Bestand hat:

Das New­ton­sche Par­a­dig­ma erset­zt also kausale Prozesse – Prozesse, die sich im Laufe der Zeit vol­lziehen – durch eine logis­che Imp­lika­tion, die zeit­los ist. (S. 94)

Dieses Ide­al zeit­losen Wis­sens führt also dazu, dass wir die Zeit als irrel­e­vant für die eigentliche Erk­lärung der Welt ver­ste­hen müssen. Denn wäre sie rel­e­vant, kön­nten logis­che Geset­ze nicht unab­hängig von ein­er zeitlichen Dimen­sion gedacht wer­den.

Das isolierte System als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis

Um solche abstrak­ten Geset­zmäßigkeit­en zu iden­ti­fizieren, ist die mod­erne Wis­senschaft in hohem Maße auf die Meth­ode des Exper­i­ments und der kon­trol­lierten Mes­sung angewiesen. Dazu gilt es, einen möglichst kleinen und über­schaubaren Teil aus der Welt zu isolieren und diesen dann so zu betra­cht­en, als würde er vol­lkom­men für sich alleine ste­hen. Hier muss die Welt also zwangsläu­fig verkürzt und vere­in­facht wer­den, um tat­säch­lich nur ein einzelnes Phänomen, einen einzel­nen Prozess beobacht­en zu kön­nen:

Um ein Sys­tem zu studieren, müssen wir definieren, was zu ihm gehört und was von ihm aus­geschlossen ist. Wir behan­deln das Sys­tem so, als ob es vom übri­gen Uni­ver­sum isoliert wäre, und diese Iso­la­tion ist selb­st eine drastis­che Annäherung. (S. 80)

Diese Herange­hensweise funk­tion­iert so lange, wie sich isolierte Sys­teme tat­säch­lich wieder­holt schaf­fen lassen, um kausale Zusam­men­hänge ein­deutig zu iden­ti­fizieren. Sie ist jedoch darauf angewiesen, dass es einen Stand­punkt außer­halb des unter­sucht­en Sys­tems gibt, von dem aus man es beobacht­en kann. Genau diese Voraus­set­zung kann jedoch nicht länger erfüllt wer­den, wenn es um kos­mol­o­gis­che Fra­gen, also Fra­gen nach der Natur unseres Uni­ver­sums und der grundle­gen­den Beschaf­fen­heit unser­er Exis­tenz, geht. Hier gibt es kein unbe­wegtes “Außen” von dem aus sich das Uni­ver­sum aus neu­traler Posi­tion beobacht­en ließe.

Unsere gegen­wär­ti­gen The­o­rien kön­nen auf der Ebene des Uni­ver­sums nur dann funk­tion­ieren, wenn unser Uni­ver­sum ein Sub­sys­tem eines größeren Sys­tems ist. Also erfind­en wir eine fik­tive Umge­bung und füllen sie mit anderen Uni­versen. Das kann nicht zu wirk­lichem wis­senschaftlichen Fortschritt führen, weil wir kein­er­lei Hypothese über Uni­versen bestäti­gen oder fal­si­fizieren kön­nen, die von unserem eige­nen kausal entkop­pelt sind. (S. 26)

Diese implizite Annahme eines wie auch immer geart­eten “Raums” voller Uni­versen ist jedoch lediglich eine the­o­retis­ches Pos­tu­lat (vgl. meinen Artikel zu Peter Janichs Handw­erk und Mundw­erk und keine Aus­sage über die tat­säch­liche Beschaf­fen­heit der Welt. Sie ist vielmehr eine Voraus­set­zung dafür, dass einige der etablierten kos­mol­o­gis­chen Mod­elle über­haupt kon­sis­tent sind. Präzise for­muliert muss es also heißen: “Damit unsere Mod­elle stim­men kön­nen, muss es ein solch­es Mul­ti­ver­sum geben” und nicht “Es gibt ein Mul­ti­ver­sum, deswe­gen stim­men unsere Mod­elle” oder “Weil unsere Mod­elle stim­men gibt es ein Uni­ver­sum”.

Vom zeitlosen zum zeitgebundenen Univserum

Wie sehen aber nun diese zeit­losen kos­mol­o­gis­chen Mod­elle aus, von denen in den let­zten Abschnit­ten die Rede war? Sie gehen grund­sät­zlich davon aus, dass das Uni­ver­sum aus ein­er fik­tiv­en Außen­per­spek­tive unbe­wegt und unverän­dert bleibt, also qua­si in Raum und Zeit einge­froren ist. Die Wahrnehmung zeitlich­er wie räum­lich­er Verän­derun­gen entste­ht demzu­folge nur durch die Verän­derung der rela­tionalen Posi­tion­ierung einzel­ner Ele­mente inner­halb dieses nach außen hin sta­tis­chen Raums – ähn­lich wie die moleku­lare Bewe­gung und Dynamik inner­halb eines Brüh­wür­fels von außen nicht ohne spezielle Instru­mente zu erken­nen ist. Der britis­che Physik­er Julian Bar­bour schlägt gar eine The­o­rie vor, die wed­er einen zeitlichen Ablauf noch kausale Zusam­men­hänge benötigt:

Bar­bours The­o­rie zufolge ist die Kausal­ität eben­falls eine Illu­sion. Nichts kann Ursache von etwas anderem sein, weil in Wirk­lichkeit im Uni­ver­sum nichts geschieht: Es gibt ein­fach nur einen riesi­gen Haufen von Zeit­punk­ten, von denen einige von Wesen wie uns selb­st erlebt wer­den. In Wirk­lichkeit ist jedes Erleb­nis jedes Zeit­punk­ts ein­fach nur das: unver­bun­den mit allen übri­gen. Es gibt zwar Zeit­punk­te, aber keine Ord­nung dieser Zeit­punk­te, kein Verge­hen der Zeit. (S. 135–136)

Auch wenn eine solche The­o­rie dazu beiträgt, den beste­hen­den Erk­lärungsmod­ellen Kon­sis­tenz zu ver­lei­hen, scheint sie uns doch zutief­st unbe­friedi­gend. Natür­lich kann es sein, dass die Wahrheit uns ein­fach nicht gefällt, was jedoch nichts an ihrer Gel­tung ändert. Doch Smolin erin­nert an dieser Stelle erneut an die Funk­tion der Natur­wis­senschaft:

Um erfol­gre­ich zu sein, muss eine natur­wis­senschaftliche The­o­rie uns die Beobach­tun­gen erk­lären, die wir in der Natur machen. Doch unsere grundle­gend­ste Beobach­tung ist die, dass die Natur zeitlich organ­isiert ist. Wenn die Natur­wis­senschaft eine Geschichte erzählen muss, die alles, was wir in der Natur beobacht­en, umfasst und erk­lärt, sollte das nicht auch unser Erleben der Welt als einen Fluss von Augen­blick­en ein­schließen? Ist nicht die ele­men­tarste Tat­sache der Struk­tur unser­er Erfahrung auch ein Teil der Natur, den unsere fun­da­men­tale The­o­rie der Physik wider­spiegeln sollte? (S. 142)

Dabei stellt für ihn ins­beson­dere die Frage nach dem Ursprung unseres Uni­ver­sums und den Grün­den für seine Beschaf­fen­heit eine unüber­wind­bare Bar­riere dar. Konzepte eines zeit­losen Uni­ver­sums müssen voraus­set­zen, dass dieses ein­fach existiert. Sie kön­nen nicht die Frage stellen, warum sich genau die beobachteten Geset­zmäßigkeit­en her­aus­ge­bildet haben, die wir beobacht­en. Es gibt zwar die Idee der Exis­tenz ein­er unendlichen Anzahl von Uni­versen, die jede mögliche Kom­bi­na­tion von Naturge­set­zen real­isieren, diese kann jedoch auch nicht mit kausalen Grün­den für deren Entste­hung argu­men­tieren. Diese Idee wird oft­mals unter dem Begriff des “unwahrschein­lichen Uni­ver­sums” zusam­menge­fasst und schließt damit an die evo­lu­tion­s­the­o­retis­che Idee eines sur­vival of the fittest an. Dabei wird jedoch überse­hen, dass ger­ade die Evo­lu­tion ein streng zeit­ge­bun­den­er Prozess ist, in dem sich nach und nach Struk­turen entwick­eln und ihre Repro­duk­tions­fähigkeit in einem bes­timmten Umfeld unter Beweis stellen müssen. Smolin fordert daher eine Konzep­tion der Entste­hung des Uni­ver­sums, die diesen Zeit­bezug und diese proze­du­rale Entwick­lung berück­sichtigt, dabei gle­ichzeit­ig aber nicht im Wider­spruch zu empirisch gesicherten Erken­nt­nis­sen ste­hen darf:

In der zeit­ge­bun­de­nen Ver­sion, die ich vorschlage, ist das Uni­ver­sum ein Prozess zur Aus­brü­tung neuer Phänomene und Organ­i­sa­tion­szustände, der sich ständig erneuert, wobei er sich zu Zustän­den immer höher­er Kom­plex­ität und Organ­i­sa­tion entwick­elt. (S. 265)

An die Stelle des “unwahrschein­lichen Uni­ver­sums” will Smolin entsprechend das “sich entwick­el­nde Uni­ver­sum” stellen, in dem Naturge­set­ze keine ätherisch-zeit­losen Prinzip­i­en darstellen, son­dern vielmehr im Zeitver­lauf ent­standene und verän­der­liche Eigen­schaften im Prozess ein­er andauern­den kos­mol­o­gis­chen Evo­lu­tion.

Quellen

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