Neurowissenschaft noch prä-paradigmatisch

Die Erforschung des Bewusst­seins rück­te erst wieder in den Rah­men akzep­tiert­er wis­senschaftlich­er Arbeit, als sich zwei Wis­senschaftler, die zuvor in anderen Diszi­plinen einen Nobel­preis gewon­nen hat­ten, ihrer annah­men: Fran­cis Crick und Ger­ald Edel­man. Während Crick in erster Lin­ie auf die Kor­re­la­tion zwis­chen neu­ronaler Bildge­bung und Bewusst­seinsin­hal­ten schaut(e), ging es Edel­man in erster Lin­ie um eine math­e­ma­tisch-the­o­retis­che Konzep­tion des Bewusst­seins, so Erik Hoel in seinem Buch The World Behind the World: Con­scious­ness, Free Will, and the Lim­its of Sci­ence. Die zwei unter­schiedlichen Herange­hensweisen prä­gen die Diszi­plin bis heute, machen aber auch deut­lich, dass den Neu­rowis­senschaften noch ein belast­bares Fun­da­ment für ihre Arbeit fehlt.

Ger­ade an der Schnittstelle zwis­chen belast­barem wis­senschaftlichem Wis­sen und prak­tisch anwend­baren Erken­nt­nis­sen zeigen sich die Neu­rowis­senschaften bei der Erforschung des Bewusst­seins bis heute schwach. So schildert Hoel, dass zwei Ideen, die in der Öffentlichkeit oft als zen­trale Erken­nt­nisse der Neu­rowis­senschaften wahrgenom­men wer­den, auf einem sehr dün­nen empirischen Fun­da­ment ste­hen: die Idee der Spiegel­neu­ro­nen und der Zusam­men­hang zwis­chen Depres­sio­nen und einem chemis­chen Ungle­ichgewicht des Sero­tonin­spiegels. Für bei­de Punk­te fehlen bis heute belast­bare empirische Belege:

But since those ear­ly days of hype the actu­al mir­ror neu­ron lit­er­a­ture has descend­ed into a morass of skep­ti­cism and vague­ness.

For how many years have neu­ro­sci­en­tists and psy­chi­a­trists told the pub­lic that depres­sion is caused by a chem­i­cal imbal­ance in sero­tonin lev­els? And yet there is no proven link, after decades of exhaus­tive research, between depres­sion and these lev­els.

Hoel macht zwei grundle­gende Schwächen für diesen schw­eren Stand der Erforschung des Bewusst­seins aus: die prak­tis­che Organ­i­sa­tion der Forschung und das Fehlen eines empirisch abgesicherten the­o­retis­chen Erk­lärungsmod­ells – eines ersten „Par­a­dig­mas“ im Sinne von Thomas Kuhn.

Hoel schreibt, dass die Neu­rowis­senschaften im Sinne Cricks – also der Verknüp­fung von neu­ronaler Bildge­bung und Bewusst­seinsin­hal­ten – in erster Lin­ie mit sehr kleinen Stu­di­en arbeit­en:

This means that pro­fes­sors have a half- dozen peo­ple in their lab, get access to an fMRI machine, and then book a cou­ple dozen scans of under­grad­u­ates for what­ev­er paper they’re doing next.

Schon diese weni­gen Bil­dauf­nah­men sind kom­plex zu organ­isieren und äußerst teuer, sodass es kaum Stu­di­en gibt, die tat­säch­lich in der Lage sind, belast­bare Kor­re­la­tio­nen zwis­chen Bildge­bung und Bewusst­seinsin­hal­ten herzustellen. Hierzu wären Auf­nahme tausender Proban­den nötig, nicht nur die weniger Dutzende.

Aber auch die the­o­retis­chen und empirischen Forschungswerkzeuge und ‑ver­fahren sind noch nicht auf einem Stand, der uns in die Lage ver­set­zen würde zu erken­nen, was in unserem Gehirn geschieht. So schreibt Hoel über eine sehr spezielle Studie, die einen toten Lachs dem­sel­ben Unter­suchung­spro­gramm unter­zog, wie lebendi­gen Men­schen:

In a noto­ri­ous study in 2009, a dead salmon was put in an fMRI scan­ner and shown the kind of stan­dard fMRI task of “look­ing” at pho­tographs that depict­ed humans in social sit­u­a­tions. The dead salmon, quite oblig­ing­ly, showed a sta­tis­ti­cal­ly sig­nif­i­cant response to a com­mon analy­sis pipeline. (S. 53)

Wie in anderen Diszi­plinen, schlägt auch hier die Repro­duk­tion­skrise durch, bei der bre­it disku­tierte und akzep­tierte Ergeb­nisse in neuen Stu­di­en nicht ver­lässlich repro­duziert wer­den kön­nen – nach den aktuell akzep­tierten wis­senschaftlichen Kri­te­rien ein schw­er­wiegen­des Prob­lem.

Eine weit­ere Studie weckt eben­falls Zweifel an der grund­sät­zlichen Leis­tungs­fähigkeit aktueller neu­rowis­senschaftlich­er Ansätze. Hier wurde ein ein­fach­er Com­put­er­chip kon­stru­iert, von dem all die Mes­sun­gen en détail bekan­nt sind, die wir für das Gehirn gerne hät­ten und die es uns den entsprechen­den Fachvertreter*innen zufolge eigentlich ermöglichen soll­ten, das Gehirn zu „ver­ste­hen“. Jedoch:

Yet despite know­ing the com­plete wiring dia­gram, despite hav­ing all the microscale infor­ma­tion that we wish we knew for the brain, all the con­clu­sions the researchers could derive from the suite of tech­niques neu­ro­science has to offer were triv­ial or, in some cas­es, direct­ly mis­lead­ing. (S. 59)

All dies bringt Hoel zu dem Schluss, dass die Neu­rowis­senschaften im Hin­blick auf die Unter­suchung des Bewusst­seins im Kuhn’schen Sinne als „prä-par­a­dig­ma­tisch“ zu ver­ste­hen sind. Anders als andere (meist Natur-)Wissenschaften, haben sie noch keinen fes­ten Boden unter den Füßen, der es ihnen erlaubt, die in der Wis­senschaft geforderten ver­lässlichen Vorher­sagen zu tre­f­fen und in einem zweit­en Schritt daraus hand­lungsrel­e­vantes Wis­sen zu gewin­nen.

Quellen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert