Was Murmel-Rennen über die mediale Inszenierung von Sport verraten

Am Anfang jed­er Woche warten wir voller Vor­freude auf das neue Seg­ment aus Last Week Tonight, ein­er amerikanis­chen Show irgend­wo zwis­chen Frontal 21, Böh­mer­mann und heute Show. Let­zte Woche ging es um den Sport in Zeit­en von Coro­na, ein The­ma, in dem Deutsch­land mit dem Re-Start der Fußball-Bun­desli­ga und jet­zt wohl auch mit dem Final­turnier der Bas­ket­ball-Bun­desli­ga weltweit „führend“ ist – ob im Sinne von „Wir haben es als erste geschafft“ oder von „Wir sind die Leichtsin­nig­sten“, lasse ich mal dahin gestellt. https://www.youtube-nocookie.com/embed/z4gBMw64aqk

John Oliv­er, Mod­er­a­tor der Show, scheint den Profi-Sport aktuell eher kri­tisch zu sehen und hat auf Youtube eine Alter­na­tive aufge­tan: Murmel-Ren­nen. Der Kanal Jelle’s Mar­ble Runs ver­anstal­tet jedes Jahr einen Wet­tbe­werb zwis­chen Teams aus Murmeln, die sich auf wilden und sehr kreativ gestal­teten Par­cours Wet­tren­nen liefern. Ein­fach nur den Geset­zen der Physik fol­gend. Das ist vol­lkom­men kon­tak­t­los und damit natür­lich für das „phys­i­cal dis­tanc­ing“ prädes­tiniert.

Wir haben uns dann gle­ich mal zwei oder drei dieser Videos angeschaut und ich war über­rascht: Es funk­tion­iert! Diese kleinen Murmel-Ren­nen kön­nen bei mir genau das­selbe Bedürf­nis befriedi­gen wie beispiel­sweise Biathlon, Bob-Ren­nen, Ten­nis oder Fußball. Und dass, obwohl hier ein­fach nur unbelebte Murmeln – zugegeben­er­maßen kreative – Bah­nen ent­langrollen.

Das weckt dann natür­lich die Frage, warum es über­haupt unter­halt­sam ist, Sport zu schauen und welche „Tricks“ Jelle und Dion Bakker nutzen, um dieses Gefühl zu weck­en. Ohne große Recherche kom­men mir dabei fol­gende Gedanken:

  1. Der Kom­men­ta­tor der Ren­nen macht einen her­vor­ra­gen­den Job, das Kullern der Murmeln als wirk­lichen, lebendi­gen Sport zu verkaufen. Er schafft eine span­nende Live-Atmo­sphäre, die einem in jedem Moment das Gefühl gibt, hier echt­en Sport zu erleben. Dabei per­son­ifiziert er die Murmeln geschickt, legt ihnen Strate­gien und Pläne in das Glas und tut auch anson­sten all das, was Sport-Kom­men­ta­toren so tun.
  2. Nicht nur die Murmeln, son­dern auch die Teams haben Namen, die es mir als Zuschauer ermöglichen, Sym­pa­thie oder Antipathie ihnen gegenüber zu entwick­eln. Es treten also die Choco­latiers gegen die Sav­age Speed­ers an oder Ghost Plas­ma gegen Sil­ver Bolt. So find­et man schnell seine Favoriten, mit denen man wun­der­bar mit­fiebern kann. Bei For­mat­en wie der „Mar­bu­la E“, die in Koop­er­a­tion mit der „echt­en“ For­mu­la E durchge­führt wird, entsprechen die Team-Namen sog­ar den echt­en, sodass man gle­ich weit­er sein Liebling­steam anfeuern kann. Das bunte und vielfältige Ausse­hen der Murmeln ver­stärkt diesen Effekt nochmal. Es gibt sog­ar ein Wiki, in dem man sich über Murmeln und Teams sowie ihre Geschichte informieren kann.
  3. Schließlich schließen die For­mate und Wet­tbe­werbe auch an echte Sportarten und Wet­tbe­werb­s­for­mate an, sodass man sich als Zuschauer gle­ich in die richtige Atmo­sphäre hinein­ver­set­zen kann. Man muss nicht wirk­lich etwas Neues ler­nen, son­dern kann die kurzen Ren­nen genau­so schauen, wie die Sportarten, die wir schon seit Jahrzehn­ten ken­nen.

Was ver­rät und das nun aber für den „men­schlichen“ Sport, wenn ein paar Murmeln – passend insze­niert – nach nur ein paar Minuten ähn­liche Emo­tio­nen und Bindun­gen aus­lösen kön­nen? Es zeigt vor allem, dass es den Zuschauer*innen bei pro­fes­sionellen Sport nur zum Teil um dem eigentlichen Sport und die Fähigkeit­en der Sportler*innen geht, son­dern um Unter­hal­tung durch Iden­ti­fika­tion und Wet­tbe­werb.

Ganz im Sinne von Roma­nen wie Die Welle oder dem berühmten Stan­ford-Prison-Exper­i­ment reicht uns ein passender emo­tionaler Rah­men und klar markierte Unter­schiede zwis­chen den Beteiligten, um uns mit ein­er Gruppe zu iden­ti­fizieren und ein Team anzufeuern. Das geht schnell und braucht keine lange gewach­se­nen Bindun­gen – die das ganze aber natür­lich ver­fes­ti­gen und ver­schär­fen kön­nen. Als Zuschauer*innen wählen wir in diesem spielerischen Kon­flikt also ganz automa­tisch eine Seite.

Es ver­rät mir auch, warum ich beim „echt­en“ Sport automa­tisch immer irgend­wie mit den deutschen Sportler*innen fiebere, auch wenn ich außer ihrer Nation­al­ität nichts über sie weiß: Es ist der einzige offen­sichtliche Unter­schied zwis­chen ihnen und dann kann ich mich doch ein­fach denen ver­bun­den fühlen, die mir in dieser Hin­sicht ähn­lich sind. Wür­den die Kommentator*innen und die Anzeigetafeln die Stu­di­en­fäch­er, das Lieblingsti­er oder die Hob­bies der Athlet*innen angeben, würde ich die Soziolog*innen anfeuern, die Erd­män­nchen-Fre­unde oder die Leser­at­ten…

Quellen

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