Tiere müssen sich selbst bewusst sein, egal was der Spiegeltest sagt
Bei der Frage nach dem Bewusstsein von nicht-menschlichen Tieren ist der sogenannte Spiegeltest sehr bekannt geworden: Hier wird einem Tier eine Markierung im Gesicht platziert, die es nur im Spiegel erkennen kann. Dann wird dem Tier sein eigenes Spiegelbild gezeigt. Die Frage ist nun, ob das Tier die Markierung im Spiegel auf seinen eigenen Körper bezieht, was man beispielsweise daran erkennt, dass es sich selbst an der entsprechenden Stelle berührt.
Der Gedanke dahinter: Nicht-menschliche Tiere, die diesen Test bestehen, nehmen sich selbst nicht nur von innen heraus wahr, sondern sind zu einem gewissen Maß auch in der Lage, sich von außen oder als „Objekt“ zu verstehen. Im Kern ist dies also ein weiterer Aspekt der „Theory of Mind“, dass ich über mich selbst auch als ein „anderer“ denken kann – hier zeigt sich auch ein Anschluss an die Begriffe von Ich und Ego.
Für Frans de Waal ist dieser Test in seinem Buch Are We Smart Enough To Know How Smart Animals Are? jedoch keineswegs eine Voraussetzung dafür, einzelne Exemplare einer Spezies als Individuen zu verstehen oder ihnen gar eine aktive Handlungsorientierung (Agency) zuzuschreiben:
Self-agency is part of every action that an animal—any animal—undertakes. In addition, some species may possess their own unusual kind of self-recognition, such as bats and dolphins that pick out the echoes of their own vocalizations from among the sounds made by others. (S. 241)
Statt eines binären Ja/Nein-Schemas sieht er in dem Test ein Messinstrument unter mehreren, das einen bestimmten Aspekt des (Selbst-)Bewusstseins erheben kann. Für ihn gibt es hier ein Kontinuum, das sich nicht nur zwischen unterschiedlichen Tierarten zeigt, sondern dessen Entwicklung sich auch im Wachstum menschlicher Kinder nachvollziehen lässt:
As a result, I have become a gradualist. There are many stages of mirror understanding, running all the way from utter confusion to a full appreciation of the specular image. These stages are also recognizable in human infants, which are curious about their mirror image well before passing the mark test. Self-awareness develops like an onion, building layer upon layer, rather than appearing out of the blue at a given age
Dass wir nicht-menschlichen Tieren ein hohes Maß an Individualität zuschreiben müssen, zeigt sich zum Beispiel bei Delfinen, die fast schon so etwas wie individuelle Namen entwickelt haben. Im ersten Jahr ihres Lebens bildet sich für jeden einzelnen Delfin eine hochfrequente Tonfolge heraus, mit der dieser in Zukunft erkannt und auch angesprochen wird:
Dolphins go much further, however. They produce signature whistles, which are high-pitched sounds with a modulation that is unique for each individual. Their structure varies the way ring-tone melodies vary. It is not so much the voice but the melody that marks them. Young dolphins develop personalized whistles in their first year. (S. 262)
Auch bei der Erinnerung an die Vergangenheit sind Delfine in der Lage, sich an konkrete Individuen zu erinnern, denen sie teilweise vor langer Zeit begegnet sind. Dies ist ebenfalls ein Zeichen für die konkrete Erinnerung an einzelne Situationen (oder hier eben Individuen), die nicht mit einem rein-behavioristischen Bild tierischen Lernens vereinbar ist:
Bruck found that dolphins have no trouble recognizing former tank mates regardless of how much or little time they had spent together in the past or how long it had been since they had last seen them. (S. 263)