Nudges – verdeckte Manipulation oder Zurückgewinnung der Freiheit?

Das Ide­al­bild der indi­vid­u­al­is­tis­chen Gesellschaft sieht den Einzel­nen als informierten und reflek­tierten Schmied seines eige­nen Glücks. Wir han­deln immer in unserem Inter­esse, ken­nen unsere Optio­nen und sind in der Lage, die notwendi­gen Infor­ma­tio­nen zu beschaf­fen und abzuwä­gen. Doch die ver­hal­tenspsy­chol­o­gis­che Forschung hat in den let­zten Jahrzehn­ten immer wieder aufgezeigt, wie vorherse­hbar irra­tional wir uns ver­hal­ten. Wie sehr wir uns von den Reizen des Moments bee­in­flussen lassen und den großen Teil unser­er Zeit qua­si per Autopi­lot ver­brin­gen.

Dass dies mas­sive Kon­se­quen­zen hat, zeigen der Ökonom Richard H. Thaler und der Jurist Cass R. Sun­stein in ihrem 2008 erschiene­nen Buch Nudge – Improv­ing deci­sions about health, wealth and hap­pi­ness. Sie arbeit­en her­aus, wie sich diese Irra­tional­itäten und Verz­er­run­gen nutzen lassen, um das Han­deln von Men­schen zu bee­in­flussen und schla­gen dazu eine Gov­er­nance-Form des lib­ertären Pater­nal­is­mus vor.

Die Zusammenhänge, in denen wir handeln, können bewusst gestaltet werden

Die Illu­sion des unab­hängi­gen und von äußeren Ein­flüssen freien Entschei­ders ist eine also Fik­tion. Jede Entschei­d­ng, die wir tre­f­fen ist einge­bet­tet in einen umfassenden Kon­text aus Ein­flussfak­toren, die uns dazu brin­gen, auf die eine oder die andere Weise zu han­deln. Ange­fan­gen bei der Her­aus­bil­dung unser­er Per­sön­lichkeit, dem Erler­nen automa­tisiert­er Hand­lungsrou­ti­nen bis hin zu den sit­u­a­tiv­en Aus­lösern in einem spez­i­fis­chen Moment an einem konkreten Ort.

Dabei tre­f­fen wir keine bewusste Entschei­dung zwis­chen unter­schiedlichen Optio­nen, son­dern reagieren unmit­tel­bar auf spez­i­fis­che Reize und aktivieren eine fest erlernte Hand­lungsrou­tine. Damit han­deln wir so, wie wir in ähn­lichen Sit­u­a­tio­nen schon immer gehan­delt haben:

In many sit­u­a­tions, peo­ple put them­selves into an ‘auto­mat­ic pilot’ mode, in which they are not active­ly pay­ing atten­tion to the task at hand. (S.46)

Dieser Autopi­lot kann durch min­i­male Ein­griffe in unsere “Entschei­dung­sumwelt” bee­in­flusst wer­den – eine Beobach­tung, die beispiel­sweise in der Gestal­tung von Super­märk­ten schon lange aus­genutzt wird. So wer­den die teuren Marken­pro­duk­te im Regal unmit­tel­bar auf Höhe der Augen posi­tion­iert, während die preiswert­eren Haus­marken meist unten im Regal platziert wer­den. Damit sprin­gen die Marken­pro­duk­te unmit­tel­bar ins Auge und wer­den vom Autopi­loten in den Einkauf­swa­gen gelegt.

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Dies wird oft als unagemessene Manip­u­la­tion ver­standen, welche bewusst ver­sucht, uns zu bes­timmten Hand­lun­gen zu ver­führen. Diese Inter­pre­ta­tion ist dur­chaus kor­rekt, sie zieht jedoch eine zen­trale Frage nach sich: Gibt es über­haupt eine Möglichkeit, Pro­duk­te so im Regal zu platzieren, dass sie unsere Entschei­dung nicht bee­in­flussen? Thaler und Sun­stein stellen sich auf die Posi­tion, dass es eine solche Möglichkeit nicht gibt. Es existiert nun­mal nur ein begren­zter Platz auf Augen­höhe der Käufer, und dementsprechend kann nur ein Teil der Waren dort aus­gestellt wer­den. Der Super­markt bee­in­flusst die Entschei­dung also egal, was er tut:

In many sit­u­a­tions, some orga­ni­za­tion or agent must make a choice that will affect the behav­ior of some oth­er peo­ple. There is, in those sit­u­a­tions, no way of avoid­ing nudg­ing in some direc­tion, and whether intend­ed or not, these nudges will affect what peo­ple choose. (S. 11)

Entsprechende Sit­u­a­tio­nen find­en sich dabei nicht nur im Super­markt, son­dern auch bei wichti­gen Entschei­dun­gen, deren Kon­se­quen­zen wir kaum überblick­en kön­nen: der Wahl ein­er Renten- oder ein­er Lebensver­sicherung, der Entschei­dung für einen langfristi­gen Anlage­plan oder dafür, Organspender zu wer­den. Auch hier wer­den Entschei­dungssi­t­u­a­tio­nen von einem bes­timmten Akteur gestal­tet und kön­nen unsere Entschei­dun­gen in die eine oder die andere Rich­tung lenken.

Entscheidungssituationen im Sinne des langfristigen Wohls gestalten

Die Frage ist, welche Prinzip­i­en und Ziele ein­er solchen Gestal­tung der Entschei­dungssi­t­u­a­tion zugrunde liegen. Hier set­zt Thalers und Sun­steins Konzept eines “lib­ertären Pater­nal­is­mus” an, ein­er Kom­bi­na­tion aus ein­er grund­sät­zlich frei­heitlichen aber intel­li­gent ges­teuerten Gesellschaft­sor­d­nung:

Still, the approach we rec­om­mend does count as pater­nal­is­tic, because pri­vate and pub­lic choice archi­tects are not mere­ly try­ing to track or to imple­ment people’s antic­i­pat­ed choic­es. Rather, they are self-con­scious­ly attempt­ing to move peo­ple in direc­tions that will make their lives bet­ter. They nudge. (S. 6)

Es geht also darum, in bes­timmten Bere­ichen die Gestal­tung der Entschei­dungssi­t­u­a­tion so zu regeln, dass die gestal­tenden Akteure nicht ein­seit­ig entschei­den, son­dern das voraus­sichtliche Wohl aller Beteiligten in den Mit­telpunkt rückt – so genan­nte Nudges (Beispiele hierzu im Blog zum Buch). Dabei sollen Hand­lungsmöglichkeit­en jedoch nicht eingeschränkt oder ent­mutigt wer­den, son­dern lediglich im (ver­muteten) Sinn der Betrof­fe­nen vorstruk­turi­ert wer­den.

Auf diese Weise rück­en Gestal­tung­sprozesse in das Licht der öffen­tichen Diskus­sion, die bis­lang ein­seit­ig (also meist im Sinne des beteiligten Unternehmens) waren oder über­haupt nicht reflek­tiert wur­den, und damit zu uner­wün­scht­en Kon­se­quen­zen führten.

Intelligente Defaults mit geringen Barrieren und umfangreichen Informationen zu anderen Optionen

Thaler und Sun­stein schla­gen sechs unter­schiedliche For­men solch­er Nudges vor, darunter die Wahl intel­li­gen­ter Defaults und eine reflek­tierte Reduk­tion von Kom­plex­ität. Alle diese Nudges sind darauf aus­gerichtet, die typ­is­chen Verz­er­run­gen men­schlich­er Entschei­dung­sprozesse auszu­gle­ichen.

So sehen Thaler und Sun­stein beispiel­sweise in der Wahl intel­li­gen­ter Vor­e­in­stel­lun­gen eine Möglichkeit, das Han­deln der Men­schen im Sinne der All­ge­mein­heit zu bee­in­flussen. Dabei leg­en die Autoren großen Wert darauf, dass eine Abwe­ichung von diesen Defaults so ein­fach wie nur möglich gemacht wer­den sollte, um keine Bevor­mundung zu pro­duzieren. Auch sollte nicht ver­sucht wer­den, alter­na­tive Entschei­dun­gen aktiv zu ver­hin­dern. Es soll­ten vielmehr auf unter­schiedlichen Kom­plex­ität­sniveaus alter­na­tive Optio­nen und Infor­ma­tio­nen ange­boten wer­den und eine vol­lkom­men freie Wahl ermöglicht und erle­ichtert wer­den.

Das Beispiel, mit dem die Autoren das Buch ein­leit­en, ist die Posi­tion­ierung von Süßigkeit­en und Obst in ein­er Schul­café­te­ria. Sie plädieren nicht dafür, keine Süßigkeit­en zu verkaufen, son­dern diese nicht unmit­tel­bar im Blick­feld der Schüler zu posi­tion­ieren, son­dern beispiel­sweise etwas unter­halb oder am Ende des Essen­saus­gabe, um so den Anteil an gegessen­em Obst zu erhöhen.

Eine gestaffelte Reduktion von Komplexität

Beson­ders schlechte Entschei­dun­gen tre­f­fen wir in kom­plex­en Sit­u­a­tio­nen, deren Kon­se­quen­zen wir nicht abschätzen kön­nen. Hier schla­gen Thaler und Sun­stein eine gestaffelte Reduk­tion von Kom­plex­ität vor, die sie mit einem eingängi­gen Beispiel illus­tri­eren:

At a restau­rant, the default option is to take the dish as the chef usu­al­ly pre­pares it, with the option to ask that cer­tain ingre­di­ents be added or removed. In the extreme, […][free choice] would imply that the din­er has to give the chef the recipe for every dish she orders! (S. 95)

Wir müssten bei wichti­gen und langfristi­gen Entschei­dun­gen darauf ver­trauen kön­nen, dass die Optio­nen in unserem Sinne sin­nvoll gestal­tet sind – also das Essen uns schmeckt und nicht nur die Kosten des Restau­rants min­imiert. Dann ließen sich freie und informierte Entschei­dun­gen tre­f­fen, ohne unbe­d­ingt jedes Detail selb­st fes­telegen zu müssen. Dabei muss es jedoch möglich bleiben, sich sein Essen auch kom­plett selb­st zusam­men­zustellen.

Die Autoren illus­tri­eren diesen Punkt an der Gestal­tung von Wert­pa­pi­er-Port­fo­lios für die Renten­ver­sicherung: Anstatt sich für einen konkreten Fonds oder gar jeden einzel­nen Anteil zu entschei­den, ließe sich die Kom­plex­ität mit drei auf drei Risikostufen abges­timmten Port­fo­lios und einem Default auf das “gemäßigte Port­fo­lio” mas­siv reduzieren. Wer tiefer in die Materie ein­steigen will, kann dies dann natür­lich gerne bis auf das Niveau einzel­ner Anteil­skäufe tun.

Die freie und vollständig informierte Entscheidung ist und bleibt eine Illusion

Die Idee der Nudges hat eine kon­tro­verse Diskus­sion darüber aus­gelöst, inwieweit sub­tile Manip­u­la­tio­nen zum Werkzeug ger­ade staatlich­er Pla­nung und Inter­ven­tion wer­den soll­ten. Dabei muss man sich vor Augen hal­ten, dass die Vision des freien und ratio­nalen Indi­vidu­ums, das seine Entschei­dun­gen auf der Grund­lage voll­ständi­ger Infor­ma­tion unbee­in­flusst tre­f­fen kann eine Fik­tion darstellt. “Neu­trale” Entschei­dungssi­t­u­a­tio­nen gibt es eben­sowenig wie unab­hängig-ratio­nale Indi­viduen mit voll­ständi­ger Infor­ma­tion.

Die Frage, die wir uns stellen müssen lautet, ob einzelne Akteure und ihre Par­tiku­lar­in­ter­essen die all­ge­gen­wär­ti­gen Verz­er­run­gen und Irra­tional­itäten aus­nutzen dür­fen. Oder wollen wir lieber eine mehr oder weniger öffentliche Diskus­sion darüber, was für die meis­ten Betrof­fe­nen ver­mut­lich die in ihrem Sinne beste Entschei­dung wäre? Dabei muss es jedoch möglichst leicht gemacht wer­den, von dieser abzuwe­ichen, um eine unangemessene Bevor­mundung zu ver­hin­dern.

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