Das Individuum ist „Gott“

Im ersten Artikel dieser Rei­he habe ich mich damit auseinan­derge­set­zt, wie der britis­che Evo­lu­tion­s­the­o­retik­er Richard Dawkins ver­sucht, die Nicht-Exis­tenz Gottes zu beweisen. Jet­zt stellt sich aber die Frage: Was nun? Was bedeutet es, wenn Gott nicht existiert und welche Kon­se­quen­zen soll­ten wir daraus ziehen? Ein­fach alle Ref­eren­zen aus dem öffentlichen Leben tilgen, Reli­gion zur Pri­vat­sache und „Mei­n­ung“ erk­lären und dann zum näch­sten Punkt auf der Tage­sor­d­nung überge­hen?

Dieser Frage wid­met sich der britis­che Philosoph Alain de Bot­ton in seinem Buch Reli­gion für Athe­is­ten. Dabei demon­tiert er gle­ich mit seinem Satz das Pro­jekt von Richard Dawkins, ohne ihm inhaltlich zu wider­sprechen:

The most bor­ing and unpro­duc­tive ques­tion one can ask of any reli­gion is whether or not it is true. […] Though this exer­cise has its sat­is­fac­tions, the real issue is not whether God exists or not, but where to take the argu­ment once one decides that he evi­dent­ly doesn’t.

Warum hat Religion einen solchen Einfluss?

Er set­zt dabei an ein­er Beobach­tung an, die auch Richard Dawkins gemacht hat: Wenn Reli­gion in ihren Aus­sagen über den Ursprung der Welt offen­sichtlich falsch ist, warum hat sie dann im Laufe der Zeit einen so großen Ein­fluss gewon­nen? Warum ori­en­tieren sich immer noch Mil­liar­den Men­schen an ihren Regeln und Glaubenssätzen? Warum sind ihre Vertreter gesellschaftlich so hoch geachtet und ein­flussre­ich, dass z. B. ein Pas­tor deutsch­er Bun­de­spräsi­dent wer­den kon­nte?

Während ich bei Dawkins den Ein­druck habe, dass er das in erster Lin­ie auf Verblendung, Dummheit und Indok­tri­na­tion zurück­führt, ver­schiebt de Bot­ton den Blick von der „Wahrheit“ inhaltlich­er Aus­sagen auf den psy­chol­o­gisch-sozialen Beitrag, den Reli­gion in ihren vielfälti­gen For­men leis­ten kann. Er sieht den Wert der Reli­gion in den Insti­tu­tio­nen und Struk­turen, die die Men­schen bei der Suche nach moralis­chen Leitlin­ien, Werten und Sinn unter­stützen und dem Trost, den sie ihnen bieten kön­nen. Für de Bot­ton liegt in diesen Insti­tu­tio­nen und Struk­turen der Aspekt von Reli­gio­nen, den sich auch eine säku­lare Gesellschaft zunutze machen sollte. Ohne sich auch die inhaltlichen Aus­sagen über die Exis­tenz tran­szen­den­taler Wesen zu eigen machen zu müssen.

Das „gute Leben“ als Privatsache

De Bot­tons Aus­gangspunkt ist die Beobach­tung, dass moralis­che Fra­gen und die Frage nach dem guten Leben in der mod­er­nen aufgek­lärten Welt zusam­men mit dem Glauben von einem öffentlichen The­ma zur Pri­vat­sache gewor­den sind. Es ist nicht mehr die voll allen akzep­tierte Reli­gion oder die gemein­schaftlichen Regeln, die vorgeben, was „gut“ und was „richtig“ ist, son­dern jed­er kann und muss für sich entschei­den, was er oder sie für „gut“ oder „richtig“ hält.

Diese Entwick­lung hat verkrustete Denkmuster aufge­brochen und so den wis­senschaftlichen und sozialen Fortschritt ermöglicht. Sie erlegt aber gle­ichzeit­ig dem Einzel­nen eine schwere Bürde auf: Er muss sich nun allein mit der unüber­schaubaren Vielfalt moralis­ch­er und ethis­ch­er Fra­gen auseinan­der­set­zen. Er muss ohne Leit­planken alle Entschei­dun­gen in voll­ständi­ger Eigen­ver­ant­wor­tung tre­f­fen und dabei gle­ichzeit­ig zwis­chen den eige­nen Bedürfnis­sen, denen ander­er und denen der Gesellschaft abwä­gen. Hart­mut Rosa hält dazu fest:

Vom banalen All­t­ag bis in die poli­tis­che Sphäre stellen wir fest, dass uns die Kri­te­rien für unsere Entschei­dun­gen aus­ge­hen.

Die säku­lare Gesellschaft ver­langt von jedem Einzel­nen, auf sich allein gestellt tausende Jahre Geis­tes­geschichte nachzu­vol­lziehen: Er muss kom­plexe moralis­che Fra­gen, mit denen sich unzäh­lige Denker ihr Leben lang beschäftigt haben, ein­deutig beant­worten. In ein­er Zeit, in der sich kollek­tive Gewis­sheit­en auflösen, muss er in der Lage sein, indi­vidu­elle Gewis­sheit­en zu pro­duzieren, um hand­lungs­fähig zu bleiben. Er muss nicht nur einen eige­nen Sinn find­en, son­dern auch die Fam­i­lie, die Gesellschaft und die Men­schheit als Gesamtes berück­sichti­gen. Dazu Alain de Bot­ton gewohnt pointiert:

It is a sin­gu­lar­ly regret­table fea­ture of the mod­ern world that while some of the most triv­ial of our require­ments (for sham­poo and mois­tur­iz­ers, for exam­ple, as well as pas­ta sauce and sun­glass­es) are met by superla­tive­ly man­aged brands, our essen­tial needs are left in the dis­or­ga­nized and unpre­dictable care of lone actors.

Elemente der Religion in den Dienst säkularer Werte stellen

Die Frage, die de Bot­ton aus dieser Kon­stel­la­tion ableit­et, ist so ein­fach wie bestechend: Welche Ele­mente der Reli­gion kön­nen wir in eine säku­lare Gesellschaft inte­gri­eren, damit sie uns dabei unter­stützen, diese essen­ziellen Bedürfnisse zu befriedi­gen? Für ihn ist es keine Lösung, Reli­gion und alles, was an sie erin­nert, radikal aus dem öffentlichen Leben zu tilgen. Vielmehr sollte es darum gehen, das Gute zu bewahren und sich von über­holtem inhaltlichem bzw. metapho­rischen Bal­last zu tren­nen

We are pre­sent­ed with an unpleas­ant choice between either com­mit­ting to pecu­liar con­cepts about imma­te­r­i­al deities or let­ting go entire­ly of a host of con­sol­ing, sub­tle or just charm­ing rit­u­als for which we strug­gle to find equiv­a­lents in sec­u­lar soci­ety.

Die zen­trale Funk­tion, die Reli­gion über Jahrhun­derte im Leben der Men­schen über­nom­men hat, ist für de Bot­ton die tiefe Ver­ankerung von Werten und Selb­stre­flex­ion im alltäglichen Leben der Men­schen. Sie bot eine Infra­struk­tur, die dafür sorgte, dass bes­timmte Werte den Men­schen immer vor Augen standen. Sie lehrte und predigte Demut – nicht nur vor „Gott“, son­dern eben auch vor dem Leben und anderen Men­schen. Und sie bot einen Ort der Begeg­nung, in dem Men­schen unter­schiedlichen Standes zusam­menka­men.

Was wären also nun konkrete Dinge, die sich übernehmen ließen? Wie kön­nte eine Infra­struk­tur ausse­hen, die man bräuchte, um säku­lare Werte fes­ter zu ver­ankern, mod­erne Gemein­schaften zu etablieren und der Egozen­trik ent­ge­gen­zuar­beit­en? Dazu mehr in den fol­gen­den Artikeln.

Quellen

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