Das große Projekt der Menschheit in den letzten zwei bis dreihundert Jahren war die immer stärkere Kontrolle über die Welt. Ganz im – klischeehaften – biblischen Sinne hatten wir uns vorgenommen, sie uns untertan zu machen und unser Leben auf ihr bis auf den letzten Aspekt zu optimieren. Immer wenn wir einen Schritt genommen hatten, taten sich neue Schwierigkeiten, aber auch neue Möglichkeiten auf, die frische Innovationen hervorbrachten – technologische wie soziale.
Nun haben wir Menschen in Bezug auf Innovationen und Neuheiten einen kleinen Tick: Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass etwas Neues meist auf dem Bestehenden aufbaut und ihm etwas hinzufügt. So schreibt Jenny Odell in ihrem hervorragenden Buch How to do Nothing:
Our idea of progress is so bound up with the idea of putting something new in the world that it can feel counterintuitive to equate progress with destruction, removal, and remediation.
Ähnliches schreibt Lars Fischer in seinem Artikel Warum alles immer komplizierter wird und Cal Newport zitiert eine entsprechende Studie, die im Journal Nature veröffentlicht wurde:
“Defaulting to searches for additive changes may be one reason that people struggle to mitigate overburdened schedules, institutional red tape, and damaging effects on the planet.”
Dieses additive Vorgehen erhöht die Komplexität des Systems immer weiter und fordert neue Ideen und neue Lösungen, die die Komplexität weiter erhöhen, was wiederum neue Ideen und neue Lösungen fordert. Ihr seht, worauf ich hinaus will
Matt Webb hat dies sehr prägnant formuliert:
But when you increase complexity in order to optimise, demand never really goes down. The optimisation becomes an opportunity to do more, and so the complexity gets locked in – there will never be the chance to remove it
Dies ist ein weiterer Ausdruck dessen, was Hartmut Rosa dynamische Stabilisierung nennt: ein System, das darauf angewiesen ist, zu wachsen, um stabil zu bleiben. Verbunden mit der Luhmannschen Perspektive auf den ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb von Systemen wird daraus ein Teufelskreis des Wachstums: Nicht nur werden die Systeme immer größer, sie werden auch immer komplexer und damit – paradoxerweise – immer instabiler. Und instabile komplexe Systeme sind dann kaum noch zu kontrollieren …
Wohin dies führt, haben wir in den letzten Jahren immer häufiger gesehen: Ein havarierter Frachter im Suez-Kanal kann die gesamte Weltwirtschaft ausbremsen, ebenso wie fehlende Lagerflächen für leere Container an der US-amerikanischen Westküste oder Verzögerungen in der Abfertigung von Schiffen in China. Hierzu schreibt Tobias Gürtler:
Das globale Wirtschaftssystem wird immer komplexer, immer dynamischer, immer integrierter – und dadurch immer fragiler. Eine Erschütterung in einem System, etwa im Gesundheitssystem, bedeutet immer auch eine Erschütterung in einem anderen, etwa im Wirtschaftskreislauf. Und in den globalen Netzwerken der Gegenwart haben selbst kleinste örtliche Ereignisse das Potenzial, die gesamte Weltwirtschaft ins Stocken zu bringen
Diese Komplexität ist selbst für Expert*innen kaum mehr zu durchschauen, geschweige denn zu kontrollieren. Besonders kritisch wird es aber dadurch, dass wir Nicht-Expert*innen erst recht nicht mehr in der Lage sind, auch nur ansatzweise zu durchschauen, was dort passiert. Dies fasst Nilay Patel am Beispiel von Technologie zusammen:
most people have no idea how anything actually works, and are already hopelessly confused by the tech they have
Dies Beobachtung lässt sich problemlos auf andere Bereiche übertragen: das politische System, die Dynamik der Klimakatastrophe, die Weltwirtschaft, … Alles Dinge, die unseren Alltag prägen und die wir eigentlich zu einem gewissen Grad durchschauen müssten, um als informierter Bürger*innen fundierte Wahlentscheidungen treffen zu können …