Koloniale Vergangenheit ist tief in Gesellschaft verankert

Kolonialisierung verdrängt die komplette Lebensweise einer Kultur. Sie schlägt sich in der Moral wieder und in der Geschichtsschreibung, die z.B. die First Nations nur dann für relevant erachtet, wenn sie für die Weißen von Bedeutung sind.

Als jemand, der im „Globalen Norden“ aufgewachsen ist und den Kolonialismus daher in erster Linie aus der Täterperspektive kennt, fällt es mir ein wenig schwer, über das Thema zu schreiben. Gleichzeitig ist unser Umgang mit der kolonialen Vergangenheit fundamental wichtig, wenn wir es ernst damit meinen, eine faire Welt ohne Ausbeutung zu gestalten.

Ein sehr schöner neuer Artikel von Amelia Mavis Christnot hat mir hier mal wieder das eine oder andere Auge geöffnet. Am Anfang steht dabei die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Imperialismus und Kolonialismus, die für Christnot als Angehörige der First Nations besonders wichtig ist:

The beginning of recovery from imperialism comes with the removal or retreat of the foreign power. While imperialism had deep, lasting impacts on societies, the power structures established after independence were composed mostly of peoples Indigenous to those countries.

In einem kolonisierten Gebiet hingegen, ersetzen bzw. verdrängen die Neuankömmlinge die ursprünglichen Bewohner nicht nur aus Führungspositionen, sondern verdrängen explizit die gesamte Bevölkerung. Sie eignen sich nicht „nur“ Profite und Arbeitskraft an, sondern setzen ihre eigene Lebensweise als einzig akzeptable durch – gegen jeden Widerstand der ursprünglichen Bewohner.

Dabei entsteht ein grundsätzliches Ungleichgewicht zwischen den beiden Gruppen, das eine Gruppe „Normalisiert“ und die andere fast schon als historisches Artefakt objektiviert. So schreibt Christnot:

In a colonized society, if I dig up a colonizer’s Great-Grandmother and steal her possessions and bones, it’s a crime. But if a colonizer digs up and steals from my Great-Grandmother, it’s science.

Auch in der Geschichtsschreibung zeigt sich dieses Machtgefälle, weil es die Geschichte der First Nations ausschließlich als einen Aspekt der Geschichte der Vereinigten Staaten versteht und nur aus dieser Perspektive betrachtet. Eine eigenständige Untersuchung ihrer Geschichte findet kaum statt:

The histories of other ethnic or racial groups are taught only as they interact with the White populations

Eine „Dekolonisierung“ ist deshalb erst mal darauf angewiesen, die verzerrte und einseitige Geschichtsschreibung zu korrigieren. Sie muss die Geschichte der Kolonisierten als eigenständig begreifen und die Geschichte der Kolonisten vollständig erzählen. Gerade letztere darf nicht verklärt werden, sondern muss die Gräueltaten und die Verdrängung ehrlich benennen:

Decolonizing begins with replacing the lies with accurate information about our nation’s past—warts and all—and centering it on the land we live on, not Europe.

Dabei spricht Christnot auch einen Punkt an, den ich schon bei David Graeber sehr eindrücklich fand: Die europäischen Kolonisten brachten keineswegs fortschrittliche Werte von Freiheit mit, sondern eine Kultur der Kontrolle und der Oppression. Damit verdrängten sie auch Werte, die wir heute als besonders modern wahrnehmen, die aber z. B. bei den First Nations vor der Kolonisierung fest etabliert waren:

Our own history has been warped by colonization to introduce foreign concepts of patriarchy, patrilineal power, misogyny, homophobia, transphobia, subjugation of other races, and a culture based on acquisition instead of subsistence. […] Same-sex and same-gender unions equal to any other union existed far longer in this land before colonizer laws attacked their right to exist. A transgender person is a blessing from Creator—an insightful and uniting bridge between the genders.

Wie immer gilt für uns Europäer*innen und eingewanderte US-Amerikaner*innen an dieser Stelle: zuhören, zuhören, zuhören.

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