Wenn Mythen Identität stiften: Fußball im Ruhrgebiet

Es gibt keine Region in Deutschland, die so sehr mit Fußball verbunden wird, wie das Ruhrgebiet. Mit Borussia Dortmund und Schalke 04 finden sich hier erfolgreiche Spitzenvereine ebenso wie mit dem MSV Duisburg und Rot-Weiss Essen Traditionsvereine, die aktuell eine schwere Zeit durchmachen. Fußball ist so sehr im Ruhrgebiet verankert, dass der Puls mancher Städte im Takt der Saison und der Leistungen der eigenen Mannschaft schlägt. Am Tag eines Heimspiels trägt auf dem Dortmunder Westenhellweg gefühlt jeder zweite die inoffiziellen Farben der Stadt: Schwarz und Gelb. In seinem Buch Wenn wir vom Fußball träumen  geht der Sportjournalist Christoph Biermann der Rolle des Fußballs im Ruhrgebiet nach, entzaubert zwei zentrale Mythen und zeigt, warum das überhaupt nichts ändert.

Zwei Mythen über den Fußball im Ruhrgebiet

Das zentrale Element der fußballerischen Identität des Ruhrgebiets ist die “Maloche” – die körperlich harte und zehrende Arbeit unter Tage und in den Eisen- und Stahlwerken. Die Fans erwarten von ihrer Mannschaft keine technischen Zaubereien und sehen auch über Niederlagen und schlechte Leistungen hinweg, solange nur der Einsatz stimmt und die Spieler angemessen malochen.

Historisch zeichnet sich jedoch der erfolgreiche Ruhrgebietsfußball der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts jedoch gerade nicht durch körperbetontes Gebolze aus, sondern durch ein technisch und taktisch ausgereiftes Spiel. Als Beispiel greift Biermann hier den legendären “Schalker Kreisel” um Club-Legende Ernst Kuzorra heraus, mit dem der Verein aus Gelsenkirchen in den 1930-er Jahren mehrere deutsche Meisterschaften gewann:

Die größte Mannschaft des Ruhrgebiets war also eine Truppe von zirzensischen Schönspielern, denen man eine Neigung nachsagte, in Schönheit zu sterben? Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen (S. 174)

Ein weiterer Mythos betrifft den immer stärker aufkommenenden Konflikt zwischen Traditions- und Retortenvereinen, solchen also, die auf eine lange Geschichte “echten” Fußballs zurückblicken können – z.B. Rot-Weiss Essen oder Borussia Dortmund -, und solchen, die in den letzten Jahren auf der Basis hoher Geldzuwendungen einzelner Unternehmen oder Personen einen raketenhaften Aufstieg erlebt haben – z.B. der VfL Wolfsburg oder die TSG Hoffenheim.

Der Blick in die Geschichte des Ruhrgebietsfußballs zeigt jedoch, dass auch die vorgeblichen Traditionsvereine in ihren erfolgreichen Zeiten maßgeblich von Gönnern aus der Großindustrie abhängig waren:

Heute gilt RWE als großer Traditionsverein, dabei könnte man seine Geschichte ohne Weiteres mit dem Aufstieg der TSG Hoffenheim durch den Milliardär Dietmar Hopp vergleichen, der dort als Kind gespielt hatte und den Klub, nachdem er mit einem Unternehmen für Bürosoftware reich geworden war, in die Bundesliga führte. (S. 41)

Vor der Einführung der Fußball-Bundesliga 1963 war in Deutschland der Profi-Fußball verboten. Spieler durften nicht von ihrem Verein dafür bezahlt werden, dass sie trainieren und am Wochenende auf dem Platz stehen. Sie mussten ihr Geld anderweitig verdienen. Die Vereine waren demnach darauf angewiesen, dass sich ein verständnisvoller Arbeitgeber findet, der den Spieler mit einem auskömmlichen Lohn versorgt und gleichzeitig die Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Fußball sicherstellt. Hier kamen clevere Vereinsfunktionäre wie Fritz Unkel bei Schalke 04 oder Georg Melches bei Rot-Weiss Essen ins Spiel, die dies aus unterschiedlichen Gründen einrichten konnten. Transfers wurden zwischen 1920 und 1960 also weniger durch Ablösesummen und exorbitante Gehälter bestimmt, als durch attraktive Arbeitsplätze.

Wie Geschichten Identität schaffen

Doch die Entzauberung dieser Mythen spielt keine Rolle, da sie sich fest etabliert haben und zu einem Fundament der Identität des Ruhrgebietsfußballs geworden sind. Denn wie Biermann richtigerweise anführt, ist es nicht wichtig, ob eine Geschichte wahr ist, sondern dass sie sich wahr anfühlt. So wird für ihn der Fußball insgesamt zu einer Produktionsmaschine für Geschichten, glückliche wie traurige, aus denen sich die Zuschauer und Fans selbst ihre eigene Welt konstruieren:

Im Grunde kam es mir vor wie beim Pop, wo die Geschichte der Musik und der subkulturellen Moden immer wieder auf Vorlage kommt, es aber nicht um historische Korrektheit geht, sondern darum, aus Halbverstandenem, Viertelverdautem oder völlig Missverstandenem etwas Interessantes zu machen. (S. 120)

Pascal Philp, [CC-BY-SA]

Fußball lässt sich damit auch als niemals endende und nicht geskriptete Soap verstehen, in der jede Folge neue Geschichten bringt, die die Zuschauer aus ihrer Position heraus interpretieren: Feindschaften und Freundschaften, legendäre Siege und vernichtende Niederlagen, Helden und tragische Figuren. Damit bot der Fußball gerade im Ruhrgebiet eine Welt an, in der die Menschen gemeinsam der bis heute oftmals eher tristen Realität entfliehen und sich als Teil eines glamorösen Ganzen fühlen können.

Dabei ist der sportliche Erfolg der Mannschaften nicht unbedingt entscheidend, es zählt ihre Fähigkeit, Geschichten zu produzieren, die sich aus dem Zusammentreffen von Gegenwart und gefühlter Vergangenheit speisen:

Die guten Zeiten, man kann von ihnen erzählen. Aber die Geschichte verliert ihre Kraft, wenn sie nicht durch Gegenwart aufgefrischt wird. […] Vergangenheit ist auch lebendiger, wenn sie nicht einfach vergangen, sondern mit der Gegenwart verbunden ist. (S. 243)

So hat der Fußball eine zentrale Rolle in dem gerade entstehenden Identitätsraum Ruhrgebiet gespielt. Er bietet mit seiner umfangreichen Geschichte und seinen vielfältigen Geschichten einen Kristallisationspunkt für das Gefühl einer Gemeinschaft – nicht zur innerhalb einer Fanszene, sondern auch darüber hinaus. Denn selbst falsche oder verzerrte Geschichten können Identität stiften, wenn sie nur oft genug geglaubt werden.

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