Gut vier Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal im Dortmunder Schauspielhaus zu Gast war. Damals endete mit Die Möwe nicht nur die Intendanz von Kay Voges, sondern auch einige Jahre, in denen das Schauspiel in Dortmund und die anderen Sparten des Dortmunder Theaters ein fester Bestandteil meines Alltags waren. Die Geburt meines Sohnes und dann natürlich auch unser aller Corona sorgten dafür, dass ich die Arbeit der neuen Intendantin – Julia Wissert – erst jetzt selbst in Augenschein nehmen konnte.
Mit der Bühnenfassung von Sybille Bergs Roman GRM. Brainfuck habe ich mir dann auch gleich genau das richtige Stück ausgesucht: mit Stärken, die Gänsehaut erzeugen, und Schwächen, an denen ich mich reiben konnte.
Denn schon beim Betreten des Theaters hatte ich den deutlichen Eindruck, dass sich meine „alte Heimat“ grundlegend verändert hatte – wobei ich noch nicht sagen kann, ob dies in erster Linie am spezifischen Stück liegt, oder an dem neuen Stil des Hauses. Das Publikum ist jedenfalls deutlich jünger und deutlich diverser. Denn auch wenn Kay Voges technisch und inszenatorisch sicherlich Neuland betreten hat, war sein Theater doch immer deutlich als klassisches Theater erkennbar und fest in seinen Traditionen verankert. Jetzt hatte ich einen anderen Eindruck; den eines offeneren Theaters, eines direkteren Theaters und eines in der Welt agierenden Theaters. Das sollte sich dann im Stück als Fluch und Segen zugleich entpuppen.
Aber fangen wir mal bei dem Stück an, das Regisseur Dennis Duszczak hier mit Hilfe von sechs Schauspielerinnen und drei Musikerinnen auf die Bühne bringt: Der Roman GRM. Brainfuck von Sybille Berg erzählt, genau wie die von ihr selbst verfasste Bühnenfassung, die Geschichte von vier Jugendlichen in einem dystopischen England der nahen Zukunft. Alle vier sind mit einer schweren Kindheit belastet und beschließen gemeinsam, ihre Heimat Rochdale zu verlassen und in London ein neues Leben zu beginnen – angelockt von den Held*innen ihres Musikstils, dem Grime. Dort angekommen, verfassen sie eine Todesliste mit den Menschen, die ihnen Leid zugefügt haben und zetteln gemeinsam mit einer Gruppe Hackern eine digitale Revolution an. Ein politisches Stück eben, dass sich in alle progressiven Themen der letzten Jahre einklinkt und diese aufgreift.
Erzählung statt Handlung

Das Stück beginnt wie eine Art Musical, indem die sechs Spielenden nebeneinander auf der Bühne stehen und unterstützt von Rhythmus und leichten Tanzbewegungen im Wechsel die Vorgeschichte der Figuren erzählen. Doch dieser Stil ist nicht nur ein Stilmittel zum Einstieg, er zieht sich durch das ganze Stück. Und so besteht ein Großteil der folgenden zwei Stunden auch einer konstanten Erzählung, die kompetent vorgetragen und mit genug Bewegung und theatralischer Inszenierung untermalt wird, um nicht zu langweilen. Aber eben einer Erzählung.
Es geht um Einsamkeit, um Verlust, um Traumata, um Selbstfindung, um Hass, um ein versagendes System, um digitale Überwachung, die Aushöhlung der Demokratie und um Rache. Und ein Großteil dessen vorgetragen in einem nüchternen Stil, der bei mir kaum Emotionen aufkommen ließ. Ja, er wirkte fast schon bevormundend, weil er nichts, wirklich nichts, implizit oder angedeutet ließ. Es wurde eben alles erzählt und wenig gezeigt. So ließ mich das Stück trotz seiner Dramatik und seiner emotionalen Themen genau auf dieser Ebene – den Emotionen – seltsamerweise zu großen Teilen kalt.
Stark wurde es ironischerweise genau dann, wenn der kontinuierliche Erzählstrom versiegte und sich einige wenige Szenen Zeit und Raum für Figuren und Emotionen nahmen. Wenn die Schauspieler*innen nicht erzählten, sondern eine Rolle einnahmen. Wenn die Bilder ruhig wurden und die Musik, gezielt eingesetzt, eine vielschichtige Innenwelt eröffnete. Auch das Ensemble konnte hier mit einigen eindrucksvollen Momenten glänzen.
Das Problem an Near-Future-Geschichten
Diese seltsame Distanz der Inszenierung spiegelt sich allerdings auch in der erzählten Near-Future-Geschichte und einem grundsätzlichen Problem wider, das ich in solchen Romanen gerade im deutschsprachigen Raum häufiger beobachtet habe – z. B. bei Zoe Beck oder Theresa Hannig: Die Geschichten wirken oftmals sehr abstrakt und stilisiert und wenig konkret. Denn gerade Near-Future-Geschichten sind verdammt schwer zu schreiben: Sie müssen nah genug an unserer heutigen Gesellschaft sein, um glaubwürdig zu wirken und tatsächlich eine emotionale Verbindung herzustellen. Gleichzeitig brauchen sie aber natürlich auch großes Drama, eine Verschwörung oder was auch immer, um die Handlung zu begründen. Und die Verbindung zwischen diesem Drama und der heutigen Welt kommt dann meist zu kurz.
In GRM gibt es eben nicht glaubwürdige Nachfolgeparteien des heutigen politischen Systems, sondern irgendeinen Kandidaten und irgendeinen neu gegründete Partei. Sie bleiben abstrakt, anonym, austauschbar und dadurch eben fremd und eher karikaturesk als bedrohlich. Science-Fiction, die sich weiter in die Zukunft entfernt, weiß, dass sie sich die Zeit nehmen muss, ihre Welt zu errichten. Near-Future-Thriller vergessen dies oft, weil sie auf die Nähe zu unserer Welt setzen, schaffen es dann aber nicht, an die Komplexität unserer Welt glaubwürdig anzuschließen.
Diese Kombination aus zu einfacher Konstruktion von Welt und Handlung und der sehr erzählenden Inszenierung erzeugt bei mir das Gefühl, mehr in einer Predigt oder der Präsentation einer Verschwörungstheorie zu sitzen, als in einer Theaterinszenierung – zumindest einer klassischen.
Von neuem und altem Theater
Ich bin nur ein paar Jahre lang regelmäßig ins Theater gegangen und habe mit dem Schauspiel Dortmund dabei auch in erster Linie einen modernen und progressiven inszenatorischen Stil kennengelernt. Und doch hat gerade dieser Besucht von GRM. Brainfuck mir den Unterschied zwischen „neuem“ und „altem“ Theater sehr deutlich gemacht – und gerade die Besonderheit von heutigem politischen Theater betont.
Als Vergleich bietet sich die Inszenierung von Biedermann und die Brandstifter und Fahrenheit 451 im Schauspielhaus Dortmund an, die ich 2017(?) sehen konnte und hier auch schon rezensiert habe. Die Stücke an sich waren sicherlich nicht weniger politisch als GRM und durch ihre Inszenierung auch nicht weniger modern. Und doch hatten sie emotional einen ganz anderen, viel intensiveren Impact auf mich. Eben, weil sie mir nicht erklärt haben, was ich da sehe und was es bedeutet, sondern weil sie es mir erlaubt haben, meine eigenen Deutungen, meine eigenen Gedanken zu fassen und mit der erzählten Geschichte zu verbinden. Sie haben mich eben nicht mit der Nase auf politische Ideen gestoßen, sondern sie mir gezeigt – in ihrer Welt, in ihren Figuren, in ihren Dialogen und in ihren Bildern. Und genau das fehlt GRM über weite Strecken. Hier wird mir gesagt, dass Menschen Verschwörungstheorien glauben. In Biedermann habe ich es hautnah beobachten und erleben können. Dieses Predigende war interessantereweise genau dasselbe, was mir schon 2018 bei einem anderen, explizit „feministischen“ Stück aufgefallen ist – Everything belongs to the future von Laurie Penny.
Und hier schließt sich der Kreis zu dem, was ich am Anfang über das jüngere, inklusivere, offenere Theater schrieb: Stücke und Inszenierungen wie GRM Brainfuck tragen ihre Interpretation vor sich her. Sie machen sie von Anfang an klar, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und alle mitnehmen zu können. Sie fordern in dem Sinne die Interpretationsfähigkeit des Publikums nicht so heraus, wie nuanciertere Stücke und Inszenierungen, die Raum lassen für Interpretation, die dann aber eben auch eine gewisse Vorbildung voraussetzt, eine gewisse Erfahrung mit der Kunstform Theater. Das macht sie gleichzeitig aber natürlich auch weniger inklusiv und zugänglich.
Doch…

… eine Szene gegen Ende des Stücks lässt mich zweifeln, dass es wirklich dem Verständnis dient, wenn ein Stück seine Message so demonstrativ vor sich her trägt: Es gibt ein längeres Segment über digitale Überwachung, Manipulation und darüber, wie wenig es braucht, damit Menschen diese akzeptieren – nur ein wenig Komfort, nur ein wenig Unterhaltung. Dann folgt eine hervorragende Darbietung des Police-Songs Every Breath you Take von Lola Fuchs, während der Rest des Ensembles das Publikum anfeuert, mit den Handy-Taschenlampen den Takt der Musik zu begleiten. Wie bei einem Liebeslied halt. Und das Publikum folgt dieser Aufforderung zu großen Teilen.
Dabei ist dieser Song beileibe kein Liebeslied. Er bietet einen Einblick in die Obsession eines Stalkers, verpackt in eine schmissige Melodie. Er unterhält. Und es ist bequem, in der Mehrheit des Publikums mitzuschwingen. Unterhaltung und Komfort, Komfort und Unterhaltung …
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